Mehr als eine Wirklichkeit

«Mehr als eine Wirklichkeit.»
Akzente 1 (2024): S. 35.
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Die Wahrnehmung schliesst uns mit der Wirklichkeit kurz. Dennoch regen sich Zweifel, ob wir die Realität tatsächlich erfassen können oder ob sie nur eine Illusion im Schattentheater unseres Geistes bleibt.

In seinem Buch Anders sehen (Goldmann, 2018) öffnet uns der Neurowissenschaftler Beau Lotto anhand verblüffender Selbst­versuche Augen und Ohren. Das lüftet den einen oder anderen Wahrnehmungsschleier, ohne die Wirklichkeit zu entzaubern.

Auf ganz andere Weise zieht uns der schottische Autor J. O. Morgan in seinen Science-Fiction-Erzählungen den Boden unter den Füssen weg. Der Apparat (Rowohlt, 2023) entführt in eine Gegenwart, in der sich Objekte und später auch Menschen in Sekundenschnelle durch den Raum teleportieren lassen. Nicht alle sind von dieser bahnbrechenden Erfindung begeistert. Kommt am entfernten Ende wirklich alles an? Auch das Bewusstsein?

Mag sein, dass die Welt im Gehirn nur als virtuelle Realität existiert. Aber wie Thomas Fuchs in seiner beherzten Verteidigung des Menschen (Suhrkamp, 2020) darlegt, sind wir verkörpertes Bewusstsein. Wir leben in ständigem Austausch mit der Umgebung und anderen Wesen, was der Wahrnehmung eine erweiterte Objektivität verleiht.

So viel ist sicher: Nach der Lektüre dieser drei Bücher sehen wir die Wirklichkeit mit neuen Augen.
– Daniel Ammann


Literaturangaben

Beau Lotto
Anders sehen: Die verblüffende Wissenschaft der Wahrnehmung.
Mit zahlreichen Selbsttests.
Aus dem Englischen von Jens Hagestedt u. Katja Hald.
München: Goldmann, 2018. 448 Seiten.


J. O. Morgan
Der Apparat.
Aus dem Englischen von Jan Schönherr.
Hamburg: Rowohlt, 2023. 240 Seiten.


Thomas Fuchs
Verteidigung des Menschen: Grundfragen einer verkörperten Anthropologie.
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2311.
4. Aufl. Berlin: Suhrkamp, 2022. 331 Seiten.

Das Verschwinden der Welt

«Das Verschwinden der Welt.»
Akzente 4 (2023): S. 35.
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Die Welt um uns herum löst sich unweigerlich auf, verschwindet allmählich in der Vergangenheit und bleibt doch gegenwärtig. Durch einen materiellen Schleier erahnen wir die verblasste Wirklichkeit in Relikten und Artefakten. Mediale Spuren und Erinnerungen lassen sie gelegentlich wieder aufleben.

In seinem Buch Vom Zauber des Untergangs (Propyläen, 2023) berichtet Gabriel Zuchtriegel, Direktor des Archäologischen Parks von Pompeji, was die Ausgrabungsstätte über uns erzählt. Am 25. Oktober 79 n. u. Z. bleibt die Zeit stehen, als der Vesuv die Stadt unter vulkanischer Asche und Geröll begräbt und für die Zukunft konserviert.

Dirk Uhlenbrock und sein Autor:innen-Team haben Dinge, die es (so) nicht mehr gibt in Wort und Bild in einem nostalgischen Album versammelt (Prestel, 2016): Single und LP, Ton- und Videokassetten, Kugelkopfschreibmaschine, Pocketkamera, Rechenschieber und Walkman sind ebenso von der Bildfläche verschwunden wie das Testbild im Fernsehen.

Dass die Weltgeschichte voller Dinge steckt, die zwar verloren, aber dank Überlieferung noch greifbar sind, zeigt Judith Schalansky in ihrem denkwürdigen Verzeichnis einiger Verluste (Suhrkamp, 2018). Den Phänomenen der Vergänglichkeit hält sie Erinnerung und Imagination entgegen. «Nichts kann im Schreiben zurückgeholt, aber alles erfahrbar werden.»
– Daniel Ammann

Literaturangaben

Gabriel Zuchtriegel
Vom Zauber des Untergangs: Was Pompeji über uns erzählt.
Berlin: Propyläen Verlag, 2023. 240 Seiten.

Dirk Uhlenbrock
Dinge, die es (so) nicht mehr gibt: Ein Album der Erinnerungen.
München: Prestel, 2016. 131 Seiten.

Judith Schalansky
Verzeichnis einiger Verluste.
Berlin: Suhrkamp Verlag, 2018. 252 Seiten.

Fragen über Fragen

«Fragen über Fragen.»
 Akzente 4 (2023): S. 34.
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Was uns als Menschen auszeichnet und neben empfindsamer Körperlichkeit von leidenschaftsloser KI unterscheidet, ist unser Drang nach Wissen, die unaufhörliche Suche nach Antworten, die in den Enzyklopädien unserer Kultur noch nicht zu finden sind. Für Margaret Atwood sind es die brennenden Fragen, die uns vorantreiben und vorwärtsbringen.

Schreiben und Geschichtenerzählen sind gleichermassen Ausdruck dieser fragenden Grundhaltung. Aus Neugier und Leidenschaft (so der Titel eines früheren Bandes) richtet die kluge und engagierte Autorin seit Jahrzehnten ihren scharfen Blick auf die Wirklichkeit. Auch und vor allem dann, wenn sie uns scheinbar Märchen auftischt. Wie die fiktionalen beflügeln auch ihre essayistischen Gedankenreisen. Sie öffnen eine Luke, offenbaren den doppelten Boden einer fragilen Welt und geben Einblick in ihr Schreiben.
– Daniel Ammann

Margaret Atwood
Brennende Fragen: Essays und Gelegenheitsarbeiten von 2004–2021.
Deutsch von Jan Schönherr, Eva Regul und Martina Tichy.
Berlin: Berlin Verlag, 2023. 704 Seiten.

Das Leben ist eine Baustelle

Das Leben ist eine Baustelle

«Das Leben ist eine Baustelle.»
 Akzente 4 (2023): S. 34.
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Es ist gerade mal vierzig Jahre her. Trotzdem hat man schon fast vergessen, dass es damals auf dem Bau in den Pausen Bier gab, dass in den Beizen und überall geraucht wurde und man samstagvormittags noch Schule hatte.

Pedro Lenz nimmt uns mit ins Jahr 1982 und lässt den siebzehn­jährigen Maurerlehrling Charly aus dieser Zeit erzählen – vor allem von seinem Freund und Mentor, dem spanischen Gastarbeiter Primitivo Pérez, der bei einem Arbeitsunfall ums Leben kommt, von dessen Abenteuern in Südamerika, der Jagd nach Kriegsverbrechern, aber auch von Büchern und dem Zauber der Poesie, von Freundschaft, Verliebtheit und einem berauschenden Polo-Hofer-Konzert in der «Traube» von Wynau. Uwe Dethier hat den Mundartroman souverän ins Hochdeutsche übersetzt und findet einen eigenen Ton, der nie manieriert wirkt. In der direkten Rede bleibt der Maurerlehrling zwar ein Stift, aber aus den Beizen werden Kneipen und «d Chessle und d Garette» müssen dem Kübel und der Schubkarre weichen.
– Daniel Ammann

Pedro Lenz
Primitivo.
Aus dem Schweizerdeutschen von Uwe Dethier.
Zürich: Kein und Aber, 2023. 237 Seiten.

Das Leben ist eine Baustelle

Vom Lesen zum Schreiben

Lesen als Schreibschule

«Von Meistern lernen.»
Akzente 1 (23.2.2024).

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Normalerweise können wir den Autor:innen beim Schreiben nicht über die Schulter schauen. Aber hin und wieder verraten sie uns in Poetikvorlesungen, Interviews, Briefen oder nachgelassenen Notizbüchern, wie die Arbeit vonstatten ging, wo ein Schreibprojekt seinen Anfang nahm und welche künstlerischen Entscheidungen sie treffen mussten. Was wir allerdings immer bekommen, sind die fertigen Texte. Wir brauchen sie nur genau zu lesen und die richtigen Fragen zu stellen. «Wenn es eine Erzählung schafft, uns hineinzuziehen und weiterlesen zu lassen, und uns das Gefühl gibt, ernst genommen zu werden, wie macht sie das?»

Ausgehend von dieser und weiteren Fragen hat Autor und Universitätsdozent George Saunders sein Programm des genauen Lesens entwickelt. Über zwanzig Jahre hat er an der Syracuse University im Bundesstaat New York angehende Schriftsteller:innen in Creative Writing unterrichtet. Die Essenz seiner Close-Reading-Methode liegt nun unter dem Titel Bei Regen in einem Teich schwimmen (Orig. A Swim in a Pond in the Rain) als Buch vor.

Saunders nimmt darin sieben klassische Kurzgeschichten der grossen russischen Schriftsteller Anton Tschechow, Iwan Turgenjew, Leo Tolstoi und Nicolai Gogol unter die Lupe und führt uns Schritt für Schritt durch die Lektüre. Es geht darum, die «Physik des Genres» zu begreifen und herauszufinden, wie die Meister zu Werke gehen und auf welche Weise die Texte ihre einzigartige Wirkung entfalten. Ein besonderes Augenmerk legt Saunders dabei auf Figuren und Handlung, sich verändernde Leseerwartungen sowie Muster, die sorgfältig etabliert und alsdann kunstvoll variiert oder unterlaufen werden.

Bei diesen rezeptions­ästhetischen Tiefenbohrungen kommt Saunders erstaunlicherweise ohne die üblichen Begrifflichkeiten der Erzähltheorie aus. Er sei, wie er eingangs betont, kein Kritiker, kein Literaturwissenschaftler oder Experte für russische Literatur. Vielmehr geht es ihm darum, was wir beim Lesen gefühlt haben, und an welcher Stelle wir es gefühlt haben. Denn jede schlüssige Denkarbeit beginne mit einer echten Reaktion.

Überträgt man das auf das eigene Schreiben, lautet die wichtigste Frage: «Was hält einen Leser bei der Stange? Oder genauer: Was hält meinen Leser bei der Stange? (Was trägt und treibt einen Leser durch meine Prosa voran?)» Das Überarbeiten des Textes wird damit zu einer Übung in Beziehungspflege.
Der gemeinsame Spaziergang durch die meisterhaften Erzählungen ist ein besonderer Genuss und eine Leseschule obendrein. Laut Saunders sollen wir die Texte durchaus daraufhin lesen, «was wir bei ihnen klauen können». Und damit wir nach der Tiefenlektüre eine Brücke zum eigenen Schreiben schlagen, gibt er uns nicht nur Tipps auf den Weg, sondern fügt im Anhang drei handwerkliche Übungen bei.
– Daniel Ammann

George Saunders
Bei Regen in einem Teich schwimmen: Von den russischen Meistern lesen, schreiben und leben lernen.
Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert.
München: Luchterhand, 2022. 544 Seiten.

Magoria by Daniel F. Ammann