Drei Wochen Davos – oder länger

Drei Wochen Davos – oder länger

Nach einem auktorialen «Vorsatz», mit dem auch Hans W. Geissendörfers Filmadaption aus dem Jahr 1981 einsteigt, lässt das erste Kapitel mit dem Titel «Ankunft» den Helden des Zauberbergs von Hamburg nach Süden, über den Bodensee und von Rorschach mit der Bahn via Landquart nach Davos reisen. Dort will Hans Castorp – «dies der Name des jungen Mannes» – für drei Wochen seinen lungenkranken Vetter im Sanatorium Berghof besuchen.

Der erste Absatz aus Thomas Manns Roman «Der Zauberberg» (1924)

Die Ironie des zweiten Satzes erschliesst sich den Leser:innen erst im Laufe der tausend Seiten langen Erzählung. Thomas Mann war seinerzeit ebenfalls für drei Wochen auf Besuch nach Davos gefahren und fand hier den Stoff für seinen grossen Zeit-Roman (wovon auch Colm Tóibín in seinem biografischen Roman über Thomas Mann berichtet). 

Er machte sich an die Planung seines Romans Der Zauberberg. Der Protagonist würde fünfzehn Jahre jünger als er sein, aus Hamburg stammen und einen wissenschaftlichen Verstand und die Unschuld des Wissenschaftlers besitzen. Nach Davos würde er lediglich reisen, um seinen Vetter zu besuchen, der dort in Behandlung wäre, und wie Thomas würde er bemerken, dass die Zeit ihre Bedeutung verlor, sobald er sich in die Disziplin des Hauses einordnete. Diese neue Lebensweise würde ihn zunächst verwirren, doch schliesslich würde er sich an sie gewöhnen. 

Aus: Colm Tóibín, Der Zauberer. Aus dem Englischen von Giovanni Bandini. München: dtv, 2023. (S. 147)

Aber anders als sein Protagonist schaffte Thomas Mann nach drei Wochen den Absprung. Hans Castorp hingegen bleibt sieben Jahre im Sanatorium – bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. 


Literaturangaben

Thomas Mann
Der Zauberberg.
In der Textfassung der Grossen kommentierten Frankfurter Ausgabe. Mit Daten zu Leben und Werk. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2012. 1120 Seiten.


Der Zauberberg
BRD/Frankreich/Italien 1981.
Regie u. Buch: Hans W. Geissendörfer.
Mit Christoph Eichhorn (Hans Castorp), Marie-France Pisier (Clawdia Chauchat), Flavio Bucci (Ludovico Settembrini), Hans Christian Blech (Hofrat Behrens), Alexander Radszun (Joachim Ziemßen), Rod Steiger (Mynheer Peeperkorn), Charles Aznavour (Naphta) u.a.


Gabriele Seitz, Hrsg. 
Der Zauberberg: Ein Film von Hans W. Geissendörfer nach dem Roman von Thomas Mann.
Frankfurt/M.: Fischer, 1982. 216 Seiten.


Norman Ohler
Der Zauberberg, die ganze Geschichte.
Zürich: Diogenes, 2024. 272 Seiten.


Colm Tóibín
Der Zauberer.
Aus dem Englischen von Giovanni Bandini.
München: Hanser, 2021. / München: dtv, 2023. 560 Seiten.

Der Auftakt gibt den Takt vor

Der Auftakt gibt den Takt vor

Als Saša Stanišić liest am 31. August 2024 im Literaturhaus St. Gallen liest, ist es so heiss wie in den Weinbergen im ersten Satz seines Buches und die Performance im vollbesetzten Raum für Literatur so mitreis1send wie zu Zeiten von Charles Dickens, der dieses Format vermutlich erfunden und auf der Bühne bis zur Erschöpfung alles gegeben hat.

Saša Stanišić im Literaturhaus St. Gallen (Foto: Daniel Ammann)

Wenn ich, auf Einladung von Anya Schutzbach schon die Gelegenheit bekomme, dem Autor im Gesprächsblock auf der Bühne ein paar Fragen zu stellen, dann muss ich ihn selbstverständlich auf sein Verhältnis zu ersten Sätzen ansprechen. Ich bin mir ja sicher, dass er diese – wie auch die letzten – nicht dem Zufall überlässt. «Der ers­te Satz muss eine Poetologie des Buches enthalten», zitiert ihn Eva Bachmann im St. Galler Tagblatt (3.9.2024, S. 18).

Der erste Satz – doppelt so lang wie der barocke Titel des Erzählbands – hat es in sich. Die Steine prasseln zwar herunter, aber die Zeit bleibt für die Länge eines famosen Gedankenspiels stehen. 200 Seiten später taucht er erneut auf und schliesst am Ende des Kapitels «Der Hochsitz» eine Klammer. Aber damit ist er noch nicht ausgereizt, denn als Variante eröffnet er auch das letzte Kapitel, das die gleiche Überschrift wie das erste trägt und den Lesenden nebst einem Perspektivenwechsel ein vergnügliches Déjà-vu beschert.

An einem heissen Weinbergnachmittag 1994 warf ich einen Stein in die Luft, und Piero und Nico versuchten, meinen Stein mit ihren Steinen zu treffen, und ich sagte: «Wartet mal kurz, ich hab grad voll das Déjà-vu», und die Steine prasselten zu Boden.

Kurz vor der Lesung schiesst mir ein Satz in den Kopf, der für mich die bravouröse Mechanik  dieses Erzählexperiments voller Volten und Varianten am besten einfängt:

Das Leben ist die Antwort auf eine Frage, die wir uns gar nicht gestellt haben.

Und hätten wir tatsächlich die Möglichkeit, in einem Anproberaum einen Blick auf künftige Momente eines sich fortwährend verzweigenden Lebens zu werfen, könnte wir uns mit einer einzigen Frage wohl kaum zufrieden geben.


SRF-Bestenliste Juli 2024.
  1. Dickens ging mit seinen Lesungen erfolgreich auf Tournee. Eine Kostprobe eines solchen Auftritts zeigt der biografische Spielfilm The Invisible Woman (GB 2013. Regie und Hauptrolle: Ralph Fiennes).
    ↩︎

Literarischer Perspektivenwechsel

Literarischer Perspektivenwechsel

«Literarischer Perspektivenwechsel.»
Akzente 3 (2024): S. 35.
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Mark Twain zufolge handelt es sich bei Klassikern um Bücher, die zwar viel gelobt, aber kaum gelesen werden. Trotz langem Haltbarkeits­datum müssen sie hin und wieder neu aufgelegt werden, damit sie unter Bergen von Novitäten nicht verloren gehen. Für eine Revitali­sierung sorgen dabei weniger die Eingriffe ins Original, um es dem scheinheiligen Zeitgeist zu unterjochen, sondern vielmehr die aufmerksame und den historischen Kontext berücksichtigende Lektüre. Moderne Übersetzungen und Verfilmungen haben es da etwas einfacher, laufen aber gleichfalls Gefahr, die Urfassung zu verbiegen. Warum also nicht frisch ansetzen und dem Stoff eine neue Stimme geben? Genau dies tut Percival Everett mit seinem Roman James (Hanser, 2024). Er lässt Mark Twains Huckleberry Finn (1885) durch den Sklaven Jim erzählen, erweist dem Klassiker dadurch seine literarische Reverenz und liefert modernen Leser:innen gleichzeitig ein sozialgeschichtliches Korrektiv.

Auf ähnliche Weise verfährt Sandra Newman, wenn sie in Julia (Eichborn, 2023) Orwells 1984 (1949) aus Sicht der weiblichen Nebenfigur präsentiert. 

Auch Michael Morpurgos Kinderbuch schafft dieses Kunststück. In Toto (Atrium, 2019) bietet er vertrautes Personal auf und lässt uns «auf vier Pfoten zum Zauberer von Oz» reisen.
– Daniel Ammann


Literaturangaben

Percival Everett
James.
Mit zahlreichen Selbsttests.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl.
München: Hanser, 2024. 336 Seiten.


Sandra Newman
Julia.
Aus dem Englischen von Karoline Hippe.
Köln: Eichborn Verlag, 2023. 445 Seiten.


Michael Morpurgo
Toto: Auf vier Pfoten zum Zauberer von Oz.
Aus dem Englischen von Anne Braun. Mit Bildern von Emma Chichester Clark.
Zürich: Atrium, 2019. 256 Seiten. Ab 7 Jahren.

Digitale Schieflage

Digitale Schieflage

« Digitale Schieflage.»
 Akzente 3 (2024): S. 34.
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Barrierefreie Demokratie oder Informationsapokalypse? In ihren scharfsinnigen Essays zur Digitalmoderne räumt Eva Menasse mit der Vorstellung auf, Medien seien bloss Werkzeuge und somit für die von Menschen angerichteten Verheerungen nicht verantwortlich. Soziale Medien und manipulative Programme hätten in ihrer Wirkung indes mehr mit bewusstseinsverändernden Drogen als mit harmlosen Werkzeugen gemein.
Dass wir mit einfachen Zuschreibungen nicht weit kommen und vielleicht nicht viel dazugelernt haben, zeigt die Autorin unter anderem in ihrer Analyse der deutschen Antisemitismus­-Debatte. Digitale Massenkommunikation scheint alles zu erfassen und hat innerhalb weniger Jahre menschliches Leben und Verhalten von Grund auf verändert. Dennoch: Die analoge Welt gibt es noch, wie sie mehrfach betont: «Dort stinken die Mülltonnen und müssen die Nabelschnüre Neugeborener händisch von Erwachsenen durchschnitten werden.»
– Daniel Ammann

Digitale Schieflage

Eva Menasse
Alles und nichts sagen: Vom Zustand der Debatte in der Digitalmoderne.
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2023. 192 Seiten.

Faszination des Schreibens

Faszination des Schreibens

Akzente 3 (2024).
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Benedict Wells wollte sich eine Auszeit vom Schreiben nehmen und stolperte in ein neues Buch über das Schreiben. Im Grundton und Aufbau folgt er darin Stephen Kings On Writing: A Memoir of the Craft (2000; dt. Das Leben und das Schreiben), einem unbestrittenen Klassiker des Genres. Auch Wells beginnt mit Autobiografischem. Er blickt zurück auf seine Kindheit und Jugend, erzählt von schwierigen Anfängen und berichtet zwischen schonungsloser Selbstkritik und Ironie, wie er zum Schreiben fand und erst nach zahlreichen Rückschlägen damit Erfolg hatte. «Ich habe Geschichten erfunden», gesteht er im Vorwort, «weil ich meine eigene lange nicht erzählen konnte.»

Teil zwei widmet sich dann in einer Mischung aus Poetikvorlesung und Schreibratgeber den Verfahren und Fallstricken des literarischen Schreibens. Es sind persönliche Schlaglichter, die zwar nicht durchwegs neue Tipps und Einsichten vermitteln, aber in der Verbindung einschlägiger Quellen mit eigenen Schreiberfahrungen und anhand konkreter Textbeispiele aufzeigen, dass es nicht nur den einen richtigen Weg gibt. Scheitern und Durchhaltewillen gehören unweigerlich dazu. Denn – Talent hin oder her – Schreiben bedeutet harte Arbeit. Selbst wenn man von Mal zu Mal dazulernt, die Abläufe kennt und routinierter vorgeht, bedeutet ein neues Buch, dass man wieder ganz von vorne beginnt und vor Fehlern nicht gefeit ist.

Benedict Wells möchte «an der Vorstellung von Autor:innen als Genies im stillen Kämmerchen rütteln» und zeigt die handwerklichen Aspekte und zähen Phasen des Schreibens auf. Vom anfänglichen Funken bis zum fertigen Manuskript und dem veröffentlichten Buch ist es ein weiter Weg, ganz nach dem Motto: «Man kann beim Schreiben alles überarbeiten – ausser weisse Seiten.»

Daniel Ammann, 23.8.2024


Benedict Wells.
Die Geschichten in uns: Vom Schreiben und vom Leben.
Zürich: Diogenes, 2024. 400 Seiten.

Heute schon *gemögt?

Mit den Wort-Importen ist es so eine Sache. Mal werden sie in Aussprache und Schreibweise den deutschen Sprachgepflogenheiten angepasst, mal wieder nicht. Man darf Exposé oder Exposee schreiben, soll Annonce hingegen französisch und Anchorperson englisch artikulieren. Eine echte Challenge also, wenn nicht gar ein Knock-out, weil den Wörtern auf Anhieb nicht immer anzusehen ist, woher sie kommen und wie sie es gerne hätten.

Auch im Fall von LikesFakesScans und Timing behalten die Wörter ihren linguistischen Migrationshintergrund. So weit kein Problem, also no prob. Daran haben wir User:innen uns bereits gewöhnt. Tricky wird es erst, wenn die eingeführten Vokabeln als Verben unsere Sätze aufmischen und korrekt gemanagt werden wollen. Dann muss nämlich richtig geliktgefaktgescannt und getimt werden, damit sie nicht gecancelt (von der Kanzel herab exkommuniziert?) oder gehatet (gehäutet?) werden.

Bevor die aktualisierte Rechtschreibprüfung vorliegt und downgeloadet werden kann, empfiehlt es sich, schon mal das eigene Know-how upzudaten und seine Orthografie frisch zu tunen. Man kann die neue Schreibweise liken oder auch nicht. Wenn man keine anderen Ausdrücke zur Hand hat, gilt vorderhand der Duden, und der wartet punkto Wortbildung bei der eindeutschenden Integration mit einer einfachen Überlegung auf: Partizipien schwacher Verben werden im Deutschen prinzipiell aus ge + Wortstamm + t gebildet. Analog zu machen – gemacht heisst es also liken – geliktfaken – gefakt, stylen – gestylt. Warum es trotzdem designen – designt (und nicht *gedesignt) heisst, hab ich noch nicht ganz gecheckt. 

Wie bei den unenglischen Pluralformen Babys, Ladys, Parys und Communitys wird man sich an das ungewöhnliche Schriftbild gewöhnen (müssen) – und an den Umstand, dass das stumme e bei diesen Verben nicht zum Wortstamm gehört, auch wenn es für die englisch angehauchte Aussprache durchaus eine Hilfe wäre. Aber schliesslich sind wir gegen fighten nicht gefeit.

Like it or leave it.

PS Gemäss Duden – Die deutsche Rechtschreibung (29. Auflage 2024) ist es ebenfalls zulässig, bei englischen Verben im Partizip II die Endung -ed zu verwenden, sofern der «Infinitiv im Englischen auf stummes e endet». Also zum Beispiel:


Magoria by Daniel Ammann