Lesen Sie wohl!

«Lesen Sie wohl!»
Akzente 1 (2025): S. 35.
blog.phzh.ch/akzente/… (folgt)
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Da dies die letzten Medientipps für Akzente sind, gibt es zum Abschied Hinweise auf Bücher mit weiteren Lektüretipps. Die kann man lesen, um herauszufinden, was sich zu lesen lohnt. Die neue ZEIT-Bibliothek der Weltliteratur (Suhrkamp, 2024) legt gleich vor und empfiehlt «100 Bücher, 100 Lebensgefährten». Die Tipps sind nach thematischen Fragen gruppiert, z. B. «Wer begleitet mich durch die Nacht?», «Wer tröstet mich, wenn ich traurig bin?» oder – ein Dauerbrenner – «Wer bin ich?». Viele der Besprechungen stammen übrigens von namhaften Schriftsteller:innen, die man dann ebenfalls auf die Leseliste setzen kann. Für die nächsten Jahre ist also gut vorgesorgt.
Hilfreich bei der Lektürewahl sind mitunter sogar schonungslose Verrisse. In seiner Bestsellerbibel (Piper, 2024) präsentiert der Literaturkritiker Denis Scheck deshalb «Schätze und Schund aus 20 Jahren». Da dürfen «Die Zehn Gebote des Lesens» nicht fehlen, und in 21 pointierten Essays erfährt man, warum die meistverkauften Bücher nicht die besten sind und wozu Literatur überhaupt taugt, ob Bücher Leben retten oder uns zu besseren Menschen machen.
Autorinnen und Autoren produzieren aber nicht nur reichhaltigen Lesestoff. Wie der von Mara Delius und Marc Reichwein heraus­gege­bene Band 111 Action­szenen der Weltliteratur (Aufbau, 2024) auf unterhaltsame Weise demonstriert, liefern auch ihre Lebens­geschichten dramatische Episoden und heitere Anekdoten, die es zu erzählen lohnt.
– Daniel Ammann




Literaturangaben

Zeitverlag Gerd Bucerius, Hrsg.
Die neue ZEIT-Bibliothek der Weltliteratur.
«100 Bücher, 100 Lebensgefährten»
Berlin: Suhrkamp, 2024. 462 Seiten.

Denis Scheck
Schecks Bestsellerbibel zurück.
Schätze und Schund aus 20 Jahren.
München: Piper, 2024. 432 Seiten.

Mara Delius und Marc Reichwein, Hrsg.
111 Actionszenen der Weltliteratur.
Mit 11 Illustrationen von Paul Fretter.
Berlin: Aufbau Verlag, 2024. 384 Seiten.

Wackelkontakt und Metalepse

Wackelkontakt und Metalepse

Der erste Satz, so wird gelegentlich behauptet – und manchmal trifft es wohl zu –, trägt bereits die ganze Geschichte, zumindest ihre DNA, in sich. Gleich einem Samenkorn, aus dem ein ganzer Baum wächst, den man vielleicht zu Papier verarbeitet, um das Buch herzustellen, das im ersten Satz wieder das Samenkorn enthält.

So viel darf man in Wackelkontakt dem ersten Satz zugestehen: Ein paar wichtige Dinge kommen schon vor, auch wenn man dies selbstredend erst erkennt, wenn man das Übrige gelesen hat. Das gilt in diesem Fall auch für die raffinierte Metalepse1.

Der erste Satz nimmt, wie so oft, vieles vorweg und verrät doch nichts. Das macht seinen Reiz aus und lässt mich so gern dahin zurückkehren, wo alles, wenigstens in einem Buch, beginnt. Hier haben wir: (1) Franz Escher, mit seinem allusiven Namen, (2) das Warten, das man mit einem Buch oder eben mit einem (3) Puzzle zubringen kann – bis einem das Schicksal ereilt oder in der Erwartung, dass sich irgendwann etwas (4) Erwartetes oder Unerwartetes ereignet. Die zusammengesetzten Puzzleteile greifen ineinander, vervollständigen ein Bild, das aber weiterhin aus einzelnen Stücken besteht und dessen Rahmen darüber hinwegtäuscht, dass es nur einen Ausschnitt zeigt. Als würden wir durch ein Fenster blicken.

Er verstand nicht, was hier abging. Was lief hier eigentlich? Das Bild setzte sich nicht zusammen. Er hatte einen Mangel an Infor­ma­tionen. Er hatte ein Zuviel an Infor­ma­tionen. Eine unend­liche Leere öffnete sich unter seinen Füssen.

Machen wir es doch wie die Puzzlespieler und beginnen oben links mit dem Rahmen, dem ersten Satz.

Daniel Ammann 24.1.2025

  1. Auch bei der Metalepse handelt es sich um eine Art Wackelkontakt, einen narrativen Kurzschluss, bei dem unvermittelt die Ebene gewechselt wird. Wenn die einzelnen Erzählstränge ineinander greifen, sich Binnen- und Rahmenerzählung wider alle Logik gegenseitig enthalten und uns durch den Blick ins Bodenlose in einen Taumel stürzen, haben wir es mit einem Spezialfall der Metalepse zu tun, der sogenannten mise en abyme. ↩︎

Zum Thema «narrative Metalepse» siehe auch:

Jetzt schlägt’s dreizehn

Jetzt schlägt’s dreizehn

Noch einmal das Wetter, aber diesmal geht es um die Frage, was uns ein erster Satz über die Geschichte verrät, welche Erwartungen er weckt oder welche Atmosphäre schon die ersten Worte trans­por­tieren.

George Orwells berühmter Romananfang führt das sehr schön vor Augen. Unfreundliches Wetter – wie die ursprüngliche Manuskript­fassung («a cold, blowy day»1) unterstreicht und die nachfolgenden Zeilen bestätigen: «his chin nuzzled into his breast in an effort to escape the vile wind».

Keine Rede also von frühlingshaften Temperaturen und milden Schauern wie sie Geoffrey Chaucer mehr als fünf Jahrhunderte früher im Prolog seiner Canterbury Tales besingt:

Wenn milder Regen, den April uns schenkt,
Des Märzes Dürre bis zur Wurzel tränkt,
In alle Poren süssen Saft ergiesst,
Durch dessen Wunderkraft die Blume spriesst;

Geoffrey Chaucer, Canterbury-Erzählungen (in der Übersetzung von Detlef Droese)

Mit dem kurzen Hinweis auf das unwirtliche Wetter suggeriert Orwell ein realistisches Setting. Was uns dann jedoch überrascht, irritiert und auf eine aussergewöhnliche Geschichte vorbereitet, sind die letzten Worte des ersten Satzes. Auch wenn unsere heutigen Zeitmesser 24 Stunden anzeigen, schlägt es nie dreizehn. Orwells sorgfältige Überarbeitungen der Textstelle zeigen zudem, wie gekonnt er diesen Effekt erzeugt. Die Wendung «a million radios» in der Manuskriptfassung ersetzt er in einem ersten Schritt durch «innumerable clocks» und verdichtet und vereinfacht schliesslich zu «the clocks». Die scheinbare Normalität gerät unversehens ins Wanken und lässt uns mit der Frage zurück, in welcher Zeit wir hier gelandet sind?

Die geschilderten Umstände machen den Leser:innen bald klar, dass hier eine Schreckensvision heraufbeschworen wird. «Science-fiction erzählt uns normalerweise, wie andersgeartet die materiellen Lebensbedingungen in der Zukunft sein werden», merkt David Lodge dazu an (Die Kunst des Erzählens). «Orwell deutet an, dass sie ziemlich gleich wären, nur einfach schlechter.» Dass Orwell seine beklemmende Dystopie ausgerechnet im April beginnen lässt, dürfte kein Zufall sein und lässt unvermeidlich an die erste Zeilen aus T. S. Eliots Waste Land (1922) denken: «April is the cruellest month …»

April ist der grausamste Monat, er zieht
Flieder aus dem toten Land, mischt
Erinnerung und Verlangen, weckt
Dumpfe Wurzeln mit Frühlingsregen.

T. S. Eliot, «The Waste Land» (in der Übersetzung von Klaus Junkes-Kirchen)

– Daniel Ammann (11.1.2025)

  1. Das Faksimile des Typoskripts mit Orwells handschriftlichen Anmerkungen zeigt deutlich, dass er das ursprüngliche «cold, blowy» durch «bright, cold» ersetzt hat. Interessanterweise wird das Komma nach «bright» dann nicht in die erste gedruckte Ausgabe übernommen. Vermutlich Orwells Entscheidung, da er selbst die letzte (leider nicht erhaltene) Fassung für den Verlag vorbereitet hat. Les Hurst von der Orwell Society schreibt mir dazu: «Although that final typed copy no longer exists the fact that no comma appeared in the printed book must be taken as Orwell’s intention to have no comma.»
    ↩︎

Siehe auch: 

Hermann Reinfrank (1952–2023)

«Farblose grüne Ideen schlafen wütig»
Hermann Reinfrank — Künstlerporträt [1994]

Von Mark Staff Brandl und Daniel Ammann

«Nicht immer hat ein Abdruck die gleiche Form wie der Körper, der ihn gemacht hat, und nicht immer entsteht er durch das Gewicht eines Körpers. Manchmal reproduziert er nur den Eindruck, den ein Körper in unserem Geist hinterlassen hat, dann ist er der Abdruck einer Idee. Die Idee ist ein Zeichen der Dinge, und das Bild ist ein Zeichen der Idee, also das Zeichen eines Zeichens. Aber aus dem Bild rekonstruiere ich, wenn nicht den Körper, so doch die Idee, die andere von ihm hatten.»
Umberto Eco, Der Name der Rose

Freunde von uns haben kürzlich eine Episode erlebt, die sich immer wieder ergibt, wenn kleine Kinder ein Geschenk bekommen. Als sie ihrem einjährigen Sohn Nicolas ein Spielzeugauto übergaben, beachtete er das Spielzeug kaum und wandte seine ganze Aufmerksamkeit sofort dem für ihn aufregenden Styropor und der knisternden Plastikverpackung zu. Diese Art von Verpackung ist tatsächlich oft von besonderer Faszination — auch wenn diese Überreste nur die umhüllende Absenz dessen bilden, was wir für wertvoll halten. Zu dieser grundlegenden Erkenntnis gelangt auch der St. Galler Künstler Hermann Reinfrank, aber er begreift, steigert und vertieft diese Einsicht über den Abfall nachhaltig durch Einfallsreichtum, Assoziation und schiere Obsession.

Reinfrank, 1952 in St. Gallen geboren, spricht in Zusammenhang mit seiner künstlerischen Aktivität von «Müllhalden» — und das trifft zu, obgleich es sich in seinem Fall eher um das Sammeln und Anhäufen von historischem Zivilisationskehricht handelt als eine blosse Lagerstätte, wie der Begriff ebenfalls nahelegt. Voller Sorgfalt und mit grossem Eifer hortet er auserwählte Bestandteile aus dem Abfallberg seines Lebens, wandelt sie später um oder fügt sie neu zusammen und schafft so eine lebensbereichernde Kunst. Gleich auf mehreren Ebenen stellt er die Verbindung zum Müll her: erstens, indem er polsternde Schutzverpackungen aus Styropor kombiniert und diese Konstruktionen dann zum Beispiel in Gips giesst; zweitens, indem er seinen persönlichen Unrat direkt zu Werken und Installationen zusammenfügt, und drittens, indem er, gleich einem Zwang folgend, alles sammelt, ja beinahe katalogisiert, was an Altmaterial überhaupt anfällt — vor allem wenn es die Farbe Grün hat. Bei all diesen Annäherungen setzt Reinfrank auf die Zeit und lässt diese für sich arbeiten, so dass auch Zufall und Alltagserfahrung eingebracht werden. Als kritischer und aufmerksamer Beobachter all dessen, was wir auf unserem Lebensweg an Spuren zurücklassen, komponiert er «heisse» Kunst, im Gegensatz etwa zum «kühlen» Schaffen anderer Sammler-Künstler wie Arman, Robert Rauschenberg oder Andy Warhol. Überhaupt zu einem Vergleich genötigt, würden wir ihn eher in die Nähe eines Kurt Schwitters rücken als der eben genannten, vor allem dem Schwitters des Merzbau.

Die Spuren und Markierungen, welche Menschen auf der Erde hinterlassen, können — unter einem semiotischen Blickwinkel betrachtet — drei Ebenen von möglichen Bezügen aufweisen und entsprechende Schlussfolgerungen zulassen. Eine Gegebenheit, wie beispielsweise ein Fussabdruck, kann einfach als simples Ereignis genommen werden, als neutrales Zeichen, das lediglich dadurch zustandekommt, dass jemand auf den feuchten Erdboden getreten ist. Der gleiche Fussabdruck kann aber — als Index oder An-Zeichen — auch informativen Wert bekommen, wenn die Spur plötzlich als Hinweis (und Nachweis) dafür dient, dass überhaupt jemand hier war. So würde ein Detektiv den Fussabdruck unter dem Fenster eines geplünderten Hauses ganz selbstverständlich in dieser Weise, nämlich als Indiz, lesen. Die dritte Ebene schliesslich können wir als kommunikativ bezeichnen: Das Zeichen wird vom Betrachter als beabsichtigte Botschaft eines echten oder fiktiven Senders gelesen und entsprechend interpretiert, selbst wenn diese Mitteilungsabsicht in Wahrheit gar nicht existiert. Die gleichen Spuren werden nun als Aufforderung verstanden, ihnen zu folgen, mit dem Vorhaben, uns an einen bestimmten Ort zu leiten. So verhält es sich beispielsweise mit den aufgemalten Fussabdrücken in unübersichtlich angelegten öffentlichen Gebäuden oder Museen.

Der kulturell vorgegebene Rahmen, in dem wir leben, hält uns nun dazu an, Abfall, vor allem Verpackung, als ein Nebenprodukt anzusehen, eben als simples Ereignis. Die Botschaft lautet allenfalls «Pack mich aus» und (ver‑)führt uns zu den Leckerbissen im Inneren, ungeachtet des verursachten Abfalls. Reinfrank praktiziert die bedeutungsvolle Umkehrung der Kehrichtwahrnehmung. Absichtlich und mit Nachdruck liest und (miss‑)versteht er das scheinbare Nebenprodukt als kommunikatives oder doch zumindest als hoch informatives Zeichen. Was sagt uns dieses Objekt? Worin besteht seine Wesenheit, sein ontologisches Sein? — Es ist ebenso sehr ein Artefakt — ein Kunsterzeugnis also — wie derdiedasjenige, welche es hinterlassen haben.

In diesen Komplementärgestalten, den negativen Lebenshülsen, will Reinfrank Hohlformen erkennen, Matrizen, in die wir Erfahrung giessen können. Diese Ein-Drücke und Ab-Bilder liegen dann als Fund-Elemente unter Umständen jahrelang in seinem Atelier brach, warten auf eine Reaktion, auf ihre Transformation. Reinfrank glaubt nämlich, dass ein Verpackungsdesign dann am besten ist, wenn das ursprünglich Verpackte daran nicht mehr erkennbar ist. Dies ist eine Archäologie phänomenologischer Lebenserfahrung — gelebtes Leben oder, um einen Begriff zu verwenden, der im Gespräch mit ihm immer wieder auftaucht: Überleben. Seine Kunstwerke werden zu Relikten von Zufallsbegegnungen in diesem täglichen Kampf. Eine Gipsskulptur, die wir hoch auf einem Balken seines Studios stehen sahen (leider noch ohne Titel) hat ihren Ursprung in der Verbindung zweier ganz unterschiedlicher Styroporstücke. Theoretisch gesehen eine einfache Kombination, aber eindrücklich in ihrer nachhaltigen Wirkung. Es nimmt die Gestalt eines geometrischen Jaguargesichts an, eine Mayastele, die uns an jene in Tikal erinnert, taucht plötzlich im Abfallberg der Schweiz wieder aus dem Verborgenen auf. In ähnlicher Weise stellen auch andere Stücke Verbindungen zu solch altertümlichen Vorstellungsbildern und sogar zur modernen Kunst her und bewahren dennoch den Witz, der ihrer Entdeckung innewohnt: die Aztekenpyramide aus einer Abzugshaube, die Maquette zu einer abstrakten Plastik aus einer angeschwollenen Tetrapackung. Diese Müllhalden sind von vornherein mit Leben erfüllt. Ein Stapel von Objekten, an denen Reinfrank zur Zeit arbeitet, besteht aus den durchsichtigen Plastikbehältern für Fertigsalate, die der Künstler auch alle selber verzehrt hat. Schritt für Schritt füllt er seine Kunststücke mit mehr und mehr Leben an, anstatt sie auszuhöhlen, um sinnbildlich unsere Situation aufzuzeigen, wie es etwa die Pop-Art tun würde. «Kreativität ist eine Lebensform», sagt Reinfrank.

Unser metonymisches Bild von Fussabdrücken, das wir weiter oben verwendet haben, hat in einer von Reinfranks stärksten Arbeiten konkrete Gestalt angenommen, einer Installation mit Haushaltschwämmen, die von Wand zu Wand einen flächendeckenden Bodenbelag bilden. Dieses Werk mit dem Titel «Projekt Plasma» entstand 1991 für eine Ausstellung in der St. Galler Kunsthalle. Die gelb-grünen Putzschwämme wurden dabei nahtlos aneinander gereiht, jeweils mit der rauh-grünen Schrubbseite nach oben. Wenn nun Ausstellungsbesucher über die Schwämme gingen, wurden diese natürlich verrückt. (Kinder waren offenbar ganz versessen darauf, die Schwämme wieder richtig einzufügen und so den Boden zu «reparieren».) Aus diesen Störungen ergaben sich Wellenmuster, welche die Wege der Betrachter und Betrachterinnen durch den Raum nachzeichneten. Die Installation stellte in mehrfacher Hinsicht ein beträchtliches Unterfangen dar: Die 6’200 Schwämme beliefen sich auf insgesamt Fr. 2’500. Trotz grosser Bemühungen um einen Mengenrabatt beim Hersteller und im Geschäft, musste Reinfrank die Schwämme tatsächlich stückweise über den Detailhandel beziehen, da für einmal der persönliche Abfall nicht reichte. Wahrscheinlich war man nicht dazu fähig, sich dieses Projekt überhaupt als Kunst vorzustellen.

Schieres Überleben und mit seiner Kunst genug Geld zu verdienen, um damit weitermachen zu können, sind bei Reinfrank ein wiederkehrendes Thema. So gibt es mindestens zwei Nebenbeschäftigungen, die in positiver wie negativer Weise einen direkten Einfluss auf sein künstlerisches Schaffen ausgeübt haben und die für seine Fähigkeit stehen, die kleineren Überlebenskämpfe in dieses zu integrieren. Schon seit zwölf Jahren ist er als Busreiniger beschäftigt. Arbeitszeiten eines Vampirs und der allgegenwärtige Abfall haben dabei wesentlich zu seiner persönlich-künstlerischen Lebenseinstellung beigetragen, einer Betrachtungsweise, die gewissermassen auf der anderen Seite unserer eigenen liegt. Er dreht Verhältnis zwischen Hülle (leer) und Inhalt (voll) sogar bei den Tageszeiten um, denen er seine Aufmerksamkeit schenkt. Früher arbeitete Reinfrank zehn Jahre lang als Textildruckentwerfer, und vieles in seinem grundsätzlichen Kunstverständnis lässt sich in diese Zeit zurückverfolgen. Die Tätigkeit verlangt in gewisser Weise Kreativität, aber hält diese bewusst durch die kollektive Paranoia vor den ständig wechselnden Modetrends in Schach, obwohl sich auch diese Mode parasitisch von der Kunst ernährt. «Die nächste Saison steht unter dem Motto Miró», bringt Reinfrank das typische Geplänkel der Modedesigner und -verkäufer auf den Punkt. Er schuf Dessins für Stoffe, die neben Lob auch Kritiken wie «Das ist ein Bild» ernteten. Auf der andern Seite malte er gleichzeitig Bilder, die dann wiederum als «schöne Dessins» eingestuft wurden. Schon damals also verstiess er gegen einen kategorischen Imperativ des Lebens, und mit seinem heutigen Schaffen führt er diesen Schritt allmählich zur Vollendung. Dabei muss man aber auch zur Kenntnis nehmen, dass er diese Trennlinie nicht bloss im Feuer übertreibender Verallgemeinerung überquert, wie das heutzutage oft der Fall ist. Nirgends in seiner Arbeit lässt sich etwa eine Aussage wie «Kunst und Werbung sind das gleiche» oder eine ähnliche Platitüde ableiten. Er praktiziert ja gerade das Gegenteil und führt durch eine ethisch konsequente Trennung Kunst und Leben erst zusammen. Vielleicht hat er auch deshalb jenen «Beruf» (was für ein gewichtiger schweizerischer Ausdruck) aufgegeben, um nur noch als Busreiniger zu arbeiten und so Raum für seine eigentlich künstlerische Tätigkeit zu schaffen. Vor diesem Hintergrund arbeitet er immer noch, wird oft zuerst wütend, wie er sagt, und in der Folge kreativ.

Die konzentrierte Beschäftigung mit der Farbe Grün geht ebenfalls auf seine Zeit als Textildruckentwerfer zurück. Er habe sie 1972 aufgrund ihres «Un-Sinns» ausgewählt, erklärt Reinfrank. Damals war er im Vorkurs der Kunstgewerbeschule, wo es verschiedene Aufgabestellungen zum Thema Farbe gab. Uns scheinen die Assoziationen dieser Farbe mit einer Wellenlänge von 500 Nanometer zwar viel weitreichender, weshalb Reinfrank sie vielleicht absichtlich nicht genauer ausführt. Eines seiner bekannteren Werke ist eine kleine Anthologie, eine (An‑)Sammlung von Sätzen, die das Wort «grün» enthalten und aus einem breiten Spektrum von Texten stammen. Sätze mit grün (Mai 1985) das erste Exemplar aus dem Vexer Verlag, einem Kind des St. Galler Künstlers Josef Felix Müller, dessen Programm sich durch kostbare Ausgaben und Buchwerke experimenteller Künstler einen Namen gemacht hat. Seither hat Reinfrank willkürlich — oder auch nicht — immer wieder Grün als Bezugsfarbe für seine Arbeit gewählt. Wenn nicht etwas anderes, so zeichnet sicher die obsessiv-zwanghafte Verwendung dieses Farbprinzips seine einzigartige Stellung in der Ostschweizer Kunstszene aus. Ganz bewusst treibt er eine ausgefallen individuelle Entscheidung über die Jahre fast auf die Spitze.

Ebenfalls eine Reaktion auf die Kunstgewerbezeit scheint Reinfranks Feststellung zu sein, dass Kunst «keine Dekoration» ist — und nicht sein darf. Er tritt zwar leidenschaftlich dafür ein, dass (seine) Kunst einem Zeck dienen soll, jedoch einem ganz anderen als dem der Verzierung. Betrachter müssen ins Bild kommen können, sei es physisch oder gedanklich. — «Was mal Leinwand war, sind Hirne.» Die Oberfläche unserer alltäglichen Wünsche bemalt er mit Abfallpigment aus dem, was wir ausblenden. Es ist durchaus denkbar, dass Reinfranks relative Abgeschiedenheit von der aktiven Kunstszene — abgesehen von seiner Mitwirkung in der St. Galler Kunsthalle und der Teilnahme an Veranstaltungen wie der Ausstellung Kunstschaffen in der OLMA — auf seine friedliche Ablehnung jeweiliger Modeströmungen zurückzuführen ist. Das Verlangen, «seine Datenbank zu füllen», verfolgt ihn mehr als die Erfolgsmasch(in)e. «Nicht was in der Kunstszene läuft, sondern alles ist wichtig, um Kunst zu machen — nicht die Kunst», sagt Reinfrank. Ihn interessiert die Schnittstelle zwischen Relikt, Gesellschaft und dem Unsichtbaren.

Zu einem gewissen Grad sollte er sich wahrscheinlich vermehrt mit den Abläufen des Ausstellungsbetriebs auseinandersetzen oder nach Alternativen suchen, denn viele der potentiell faszinierenden Installationen scheinen nur auf den Rahmen einer passenden künstlerischen Veranstaltung zu warten, damit auch andere die Entdeckungen des Künstlers sehen und daran teilhaben können. Das pralle Chaos seines Ateliers bräuchte nur den zündenden Funken einer Gelegenheit, um nach aussen zu gelangen und dort Interesse zu wecken. Ein schön gefertigter Karteikasten aus Holz, den er aus dem Abfall gerettet hat, wartet hoffnungsvoll auf eine Ausstellung — zum Beispiel gefüllt mit Ideen und Grün. Weggeworfene Papierrollen, ursprünglich für Billettautomaten gedacht, liegen auf einem Stapel. Das Hintergrundbild der stilisierten (und spiegelverkehrten) Landschafts-Silhouette des Klosterviertels in St. Gallen gibt Reinfrank die Idee zu einer Installation, wo Besucher Regionallandschaftskunst per Laufmeter kaufen könnten. Neben diesen Arbeiten auf Abruf macht sich Reinfrank nun bereits um die Beschaffung des Rohmaterials für seine Kunst Sorgen. Scherzhaft, aber doch mit einer gewissen Betroffenheit, stellt der Sammelwütige fest, dass angesichts des (scheinbar) recyclierbaren Styropors nicht mehr genug Müll als Grundmaterial für seine Formen bleiben wird.

Obgleich einiges in dieser Diskussion um Müll schockierend wirken mag — oder zumindest als Versuch zu schockieren, so trifft dies in Wahrheit für Reinfranks Kunst ganz und gar nicht zu. Hingegen stimmt es, dass er bei einzelnen Werken schon mit ungewöhnlichen Begriffen im Zusammenhang mit Abfall gearbeitet hat. Beim letzten (in der gleichen Ausstellung zu sehen wie die grüne Schwamm-Teppich-Installation) handelte es sich um eine digitalisierte Form des Wortes «Scheisse». Reinfrank verwendete hierbei den ASCII-Standard (American Standard Code for Information Interchange), einen binären Zahlencode zur Darstellung von Zeichen im Computer. Der Buchstabe «S» beispielsweise lässt sich durch eine Serie von geöffneten («aus») und geschlossenen («ein») Schaltkreisen in der Form «ØØ11ØØ11» ausdrücken, wobei Ø «aus» und 1 «ein» bedeutet. Dieses Prinzip wandte Reinfrank, ebenso wie es ein Computer tun würde, auf das ganze Wort an und stellte dieses visuell mit Hilfe von Kaugummis dar, welche in zwei unterschiedlichen Grüntönen geliefert werden. «So schön kann Scheisse sein», meint er dazu. Obwohl es in der Beschreibung zwar provokativ tönt, handelt es sich in der visuellen Umsetzung um eine schöne Arbeit. Der Künstler konzentriert sich hier auf das Uneingestandene und führt seine Arbeitsthese quasi mit den Mitteln des prächtig neuen Computerzeitalters aus. Gemäss Reinfrank lässt dies in gewisser Weise auch an unsere ganze Lebensspanne denken, und etwas trocken, aber vielleicht völlig zutreffend kommentiert er: «Wir sind hier, um Kohlenstoff zu produzieren». In dieser Sichtweise wird das menschliche Leben relativiert und erweist sich gewissermassen als Kompost — ein durchaus wirksames Gegenmittel angesichts zu starker Romantisierung. 

Schwingt hier auch Melancholie mit? — Sicherlich, zumindest teilweise. Als wir Reinfrank so in seinem Atelier sitzen sahen, umgeben von einer Unmenge von Objekten, wurden wir doch ein bisschen an den Engel in Albrecht Dürers Radierung Melencolia II erinnert, der zwischen Symbolen und Gegenständen von Handwerk und philosophischem Denken sitzt, die das Leben eines Künstlers begleiten, eine Allegorie für die Verbindung von Zelebration und Requiem, welche so ein Leben darstellt. In diesem Künstler finden wir Dürers Engel in der Begegnung mit Dada, immer noch nach Leben dürstend. «Kein fester Boden», lautet eine von Reinfranks Antworten. «Man muss weitermachen». In der künstlerischen Tätigkeit geht es also einmal mehr «um Wahrheit». Jede und jeder bleibt auf sich selbst gestellt.

Als Reinfrank vor einiger Zeit ins neue Atelier umzog, musste er die übliche Entsorgungsgebühr für all das bezahlen, was er nicht transportieren wollte. Worin er eher quer zu uns liegt, ist wohl die Auswahl dessen, was er verbrennen liess und was ihm wertvoll genug erschien, um es zu ordnen und mitzunehmen. Seine Möbel hat er entsorgt und die Müllhalde behalten. Reinfrank wirft das weg, was andere sorgsam aufbewahren, und hortet, was andere wegschmeissen. Dies führt uns wieder zurück zur verborgenen Aussagekraft unseres Mülls. Indem er sich auf das konzentriert, was uns entgeht oder gar bewusst ignoriert wird, zeigt er uns einen Aspekt unseres Lebens auf, der die Erfahrung als Ganzes bereichern und abrunden kann. Wer will denn festlegen können, warum das eine Spielzeug und das andere nichts sein soll? Vielleicht brauchen wir beide, um überhaupt zu spielen.

 

Mark Staff Brandl & Daniel Ammann
«‹Farblose grüne Ideen schlafen wütig›: Hermann Reinfrank – Künstlerporträt.»
fön 11 (Nov./Dez. 1994): [S. 9–10].
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Siehe auch: 
Stillhart, Sibylle. «Die Müllhalde lebt! Notizen beim Besuch des Ateliers von Hermann Reinfrank, Abfallkünstler.» Saiten (Okt. 1995): doi.org/10.5169/seals-885897.

Literarische Volte

Literarische Volte

Einer der berühmtesten Textanfänge stammt aus der 1912 entstandenen Erzählung «Die Verwandlung» von Franz Kafka. Diesem ersten Satz kann man sich nicht entziehen. Er sprengt die Grenzen der realen Welt und stürzt uns in einen Wirklichkeit gewordenen Albtraum. Als im Rahmen eines internationalen Wettbewerbs 20071 nach dem schönsten ersten Satz gesucht wurde, schaffte es Kafkas Eröffnungssatz in der Kategorie Erwachsenenliteratur auf den 2. Platz. Saša Stanišić hält ihn gar für so brillant, dass die Geschichte keiner weiteren Spezialeffekte bedarf.

Das einzig spannende Ereignis ist doch, wenn der Typ als Käfer aufwacht. Zack. Das dauert genau einen Satz, den ersten. Der ist aber so gut, dass es danach keine Spannung mehr braucht.

Saša Stanišić in Zehn Gebote des Schreibens ( 1132)

Der britische Autor Ian McEwan erweist Kafka in seiner Novelle Die Kakerlake3 (Diogenes 2019) die Ehre. Er dreht den Spiess jedoch um und lässt das titelgebende Ungeziefer im Körper des britischen Premierministers erwachen. Es beginnt also gleich mit einer intertextuellen Volte.

Literarische Volte

Aber darf man einfach so abkupfern, parodieren und travestieren? Selbstverständlich würde T. S. Eliot antworten. Bereits vor hundert Jahren hat der namhafte Lyriker und Kritiker der Dichtung die Lizenz zur Aneignung ausgestellt: «Unreife Dichter imitieren; reife Dichter stehlen.» Während die schlechten Dichter:innen ihre Vorbilder verunstalten, argumentiert Eliot, machen die guten daraus etwas Besseres oder schaffen zumindest etwas anderes. – Literatur hat die Kraft zur Verwandlung.

  1. Der schönste erste Satz. Eine Auswahl der charmantesten und eindrucksvollsten Beiträge zum internationalen Wettbewerb «Der schönste erste Satz». Hrsg. von der Initiative Deutsche Sprache und der Stiftung Lesen. Ismaning: Hueber Verlag, 2007. ↩︎
  2. Zehn Gebote des Schreibens. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2011. – Siehe dazu auch meine Rezension «Regeln für die Ausnahme» in der NZZ vom 18.4.2012. ↩︎
  3. McEwan, Ian. Die Kakerlake. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Mit einem bisher unveröffentlichten Vorwort von Ian McEwan. Zürich: Diogenes, 2019. ↩︎

Benedict Wells meets Charles Simmons

Benedict Wells meets Charles Simmons

Spätestens seit Umberto Eco wissen wir, dass Bücher miteinander sprechen, auch wenn sie zur Übermittlung menschlicher Leserinnen und Leser bedürfen. Wie sagt William von Baskerville in Der Name der Rose so schön? «Mir scheint, als ob ich einige dieser Worte schon irgendwo gelesen hätte, sie erinnern mich an ähnliche, die ich früher gehört habe.»

Benedict Wells meets Charles Simmons

In seinem Buch Die Geschichten in uns (Diogenes 2024) verrät uns Bendedict Wells in einem Unterkapitel mit der Überschrift «Steal your darlings» in einer Fussnote, dass es sich beim ersten Satz seines Romans Hard Land (Diogenes 2021) um «eine Variation des ersten Satzes aus der Novelle Salzwasser (Orig. Salt Water, 1998) von Charles Simmons handelt. Ohne Vorbilder und kreative Imitation könnten Autorinnen und Autoren wohl kaum einen unverwechselbaren Stil entwickeln oder ihre eigene Stimme finden. Nur durch Nachahmung kann sich Literatur zu neuen Höhen aufschwingen.

David Lodge hat es schon richtig gesagt: Man kann keinen Roman schreiben, wenn man nicht mindestens einen – besser noch ganz viele – gelesen hat:

How does one become a writer? One thing is certain: nobody ever wrote a book without having read at least one – and more probably hundreds – of approximately the same kind. Most writers [...] begin by imitating and emulating the literature that gives them the biggest kicks. [...] And it is from reading that you acquire basic knowledge of the structural and rhetorical devices that belong to a particular genre or form of writing. To a large extent this learning process is intuitive and unconscious, like learning the mother tongue.

David Lodge, The Practice of Writing (1996, 171)

Nicht nur die KI, auch wir «trainieren» uns an Texten (gleichwohl auf ganz andere Weise). Und die Leser:innen und Kritiker:innen (oder die Gerichte) müssen dann entscheiden, ob die entstehenden Texte bloss mehr vom Gleichen sind oder doch etwas Neues in die Welt bringen. Nicht nur die Wissenschaftler:innen, auch Künstlerinnen und Künstler stehen auf den Schultern von Riesen.

7.–10.12.2024

Magoria by Daniel Ammann