Immerwährende Freundschaft

Immerwährende Freundschaft

«Immerwährende Freundschaft.»
Akzente 4 (2024): S. 35.
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Das Wort Freundschaft schreibt sich mit F, aber viele ihrer Attribute beginnen – wie das mittelhochdeutsche «vriuntschaft» – mit dem Buchstaben V: Vergangenheit, Vertrauen, Verlässlichkeit und Verständigung. Stabile Freundschaften, so Jutta Georg in ihrer Philosophie der Freundschaft (Brill Fink, 2023), setzen gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen voraus und werden durch geteilte Werte, Vorlieben und Überzeugungen getragen. Gegenseitiges Wohlwollen, Achtung und Wertschätzung dem andern gegenüber unterscheidet die Freundschaft vom profanen Zweckbündnis.
Wenn langjährige Freundschaften vergehen oder an Konflikten zu zerbrechen drohen, stehen diese Grundvoraussetzungen auf dem Spiel. In ihrem Roman Ich komme nicht zurück (DuMont, 2024) erzählt Rasha Khayat, wie Hanna, Cem und Zeyna in ihrer Kindheit zu unzertrennlichen Freunden und Teil einer Wahlfamilie werden, bis Eifersucht, Schuld und rassistische Anfeindungen ihre Freundschaft immer wieder auf eine harte Bewährungsrobe stellen.
Dass Freundschaften ein Leben weit über den Verlust hinaus prägen, beschreibt Emanuele Trevi wehmütig in seiner autobiografischen Erzählung Zwei Leben (Freies Geistesleben, 2024; aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt und Janine Malz). Trevi kämpft gegen das Vergessen an und setzt seinen Freunden Pia Pera und Rocco Carbone ein eindrückliches literarisches Denkmal.
– Daniel Ammann


Literaturangaben

Jutta Georg
Philosophie der Freundschaft.
Paderborn: Brill | Fink, 2023. 181 Seiten.


Rasha Khayat
Ich komme nicht zurück.
Köln: DuMont, 2024. 176 Seiten.


Emanuele Trevi
Zwei Leben.
Erzählung.
Aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt und Janine Malz.
Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben, 2024. 160 Seiten.

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Digitale Schieflage

Digitale Schieflage

« Digitale Schieflage.»
 Akzente 3 (2024): S. 34.
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Barrierefreie Demokratie oder Informationsapokalypse? In ihren scharfsinnigen Essays zur Digitalmoderne räumt Eva Menasse mit der Vorstellung auf, Medien seien bloss Werkzeuge und somit für die von Menschen angerichteten Verheerungen nicht verantwortlich. Soziale Medien und manipulative Programme hätten in ihrer Wirkung indes mehr mit bewusstseinsverändernden Drogen als mit harmlosen Werkzeugen gemein.
Dass wir mit einfachen Zuschreibungen nicht weit kommen und vielleicht nicht viel dazugelernt haben, zeigt die Autorin unter anderem in ihrer Analyse der deutschen Antisemitismus­-Debatte. Digitale Massenkommunikation scheint alles zu erfassen und hat innerhalb weniger Jahre menschliches Leben und Verhalten von Grund auf verändert. Dennoch: Die analoge Welt gibt es noch, wie sie mehrfach betont: «Dort stinken die Mülltonnen und müssen die Nabelschnüre Neugeborener händisch von Erwachsenen durchschnitten werden.»
– Daniel Ammann

Digitale Schieflage

Eva Menasse
Alles und nichts sagen: Vom Zustand der Debatte in der Digitalmoderne.
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2023. 192 Seiten.

Kritik als Kunst

«Wer hat je innegehalten, um die Form oder den Tonfall einer Rezension oder eines kritischen Essays zu bewundern?» Die Frage des New Yorker Filmkritikers Anthony Scott ist berechtigt. Besprechungen von Filmen, Büchern, Theateraufführungen, Konzerten oder Ausstellungen werden als Orientierungshilfe geschätzt, beeinflussen als Verriss oder Lobeshymne vielleicht den Erfolg eines Werks. Aber als eigene Kunstform, wie das schon der berühmte Kritiker und Journalist Alfred Kerr (1867–1948) gefordert hat, wird die Kritik kaum gewürdigt.

Dazu passt auch Ernest Hemingways Bemerkung in A Moveable Feast, als er einem Freund den Rat gibt: «Pass auf, wenn du nicht schreiben kannst – wie wär’s, wenn du’s mal mit Rezensionen versuchen würdest? […] Dann hast du immer was zu schreiben. Du brauchst dir nie mehr Sorgen zu machen, dass nichts mehr kommt, dass du stumm und still geworden bist. Und du hast Leser und Anerkennung.»

Ernest Hemingway in Paris, ein Fest fürs Leben. Deutsch von Werner Schmitz. (Rowohlt 2011)

Noch immer haftet der Kritik das Image der Unkreativität an. Ohne all die kreativen Beiträge, heisst es gerne, hätten die Kritikerinnen und Kritiker gar nichts, worüber sie schreiben könnten. Ausserdem, so Scott, bedeutet kritisieren für viele, «dass man etwas auszusetzen hat, dass man das Negative betont, den Spass verdirbt und sich weigert, auf empfindliche Gefühle Rücksicht zu nehmen.» Dabei sollte man sich für die Kritik durchaus stark machen, wie das in diesem anregenden und aufschlussreichen Buch geschieht. Im Zeitalter der Meinungsmache und Gefällt-mir-Klicks geht gern vergessen, dass Kritik nicht nur Stellung bezieht, sondern Massstäbe anlegt, ohne die ein begründetes Urteil gar nicht möglich ist. Kritik schärft die Wahrnehmung und ebnet den Weg für einen Diskurs.

In seinen Ausführungen und ironischen Selbstgesprächen schüttet Anthony Scott nicht nur sein Herz aus, sondern zeigt auf, welch wichtige Rolle die Kritik seit Jahrhunderten spielt. Viele bedeutende Kritiker, wie die Kulturgeschichte belegt, waren selbst Künstler und umgekehrt. Charles Baudelaire schrieb über moderne Malerei, der Lyriker Philip Larkin über Jazz. Auch Regisseure wie Godard, Chabrol oder Truffaut haben als Filmkritiker angefangen. Das mögen Ausnahmeerscheinungen sein, wie Scott eingesteht, aber in erster Linie sei die Kritik eine «Disziplin des Schreibens» und der Kritiker «eine besondere Spezies der Gattung Schriftsteller». Etwas heruntermachen, bemängeln und anfeinden ist keine Kunst, gute Kritik jedoch erfordert Argumente, klare Begriffe und vor allem Unterscheidungsmerkmale, sprich: Kriterien. Über Geschmack lässt sich nicht streiten – über Kritik schon.

Daniel Ammann

«Über Kritik lässt sich streiten.»
Akzente 1 (23.2.2018).

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Anthony O. Scott
Kritik üben: Die Kunst des feinen Urteils.
Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer.
München: Carl Hanser, 2017. 320 Seiten.

Mehr als eine Wirklichkeit

Mehr als eine Wirklichkeit

«Mehr als eine Wirklichkeit.»
Akzente 1 (2024): S. 35.
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Die Wahrnehmung schliesst uns mit der Wirklichkeit kurz. Dennoch regen sich Zweifel, ob wir die Realität tatsächlich erfassen können oder ob sie nur eine Illusion im Schattentheater unseres Geistes bleibt.

In seinem Buch Anders sehen (Goldmann, 2018) öffnet uns der Neurowissenschaftler Beau Lotto anhand verblüffender Selbst­versuche Augen und Ohren. Das lüftet den einen oder anderen Wahrnehmungsschleier, ohne die Wirklichkeit zu entzaubern.

Auf ganz andere Weise zieht uns der schottische Autor J. O. Morgan in seinen Science-Fiction-Erzählungen den Boden unter den Füssen weg. Der Apparat (Rowohlt, 2023) entführt in eine Gegenwart, in der sich Objekte und später auch Menschen in Sekundenschnelle durch den Raum teleportieren lassen. Nicht alle sind von dieser bahnbrechenden Erfindung begeistert. Kommt am entfernten Ende wirklich alles an? Auch das Bewusstsein?

Mag sein, dass die Welt im Gehirn nur als virtuelle Realität existiert. Aber wie Thomas Fuchs in seiner beherzten Verteidigung des Menschen (Suhrkamp, 2020) darlegt, sind wir verkörpertes Bewusstsein. Wir leben in ständigem Austausch mit der Umgebung und anderen Wesen, was der Wahrnehmung eine erweiterte Objektivität verleiht.

So viel ist sicher: Nach der Lektüre dieser drei Bücher sehen wir die Wirklichkeit mit neuen Augen.
– Daniel Ammann


Literaturangaben

Beau Lotto
Anders sehen: Die verblüffende Wissenschaft der Wahrnehmung.
Mit zahlreichen Selbsttests.
Aus dem Englischen von Jens Hagestedt u. Katja Hald.
München: Goldmann, 2018. 448 Seiten.


J. O. Morgan
Der Apparat.
Aus dem Englischen von Jan Schönherr.
Hamburg: Rowohlt, 2023. 240 Seiten.


Thomas Fuchs
Verteidigung des Menschen: Grundfragen einer verkörperten Anthropologie.
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2311.
4. Aufl. Berlin: Suhrkamp, 2022. 331 Seiten.

Das Verschwinden der Welt

Das Verschwinden der Welt

«Das Verschwinden der Welt.»
Akzente 4 (2023): S. 35.
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Die Welt um uns herum löst sich unweigerlich auf, verschwindet allmählich in der Vergangenheit und bleibt doch gegenwärtig. Durch einen materiellen Schleier erahnen wir die verblasste Wirklichkeit in Relikten und Artefakten. Mediale Spuren und Erinnerungen lassen sie gelegentlich wieder aufleben.

In seinem Buch Vom Zauber des Untergangs (Propyläen, 2023) berichtet Gabriel Zuchtriegel, Direktor des Archäologischen Parks von Pompeji, was die Ausgrabungsstätte über uns erzählt. Am 25. Oktober 79 n. u. Z. bleibt die Zeit stehen, als der Vesuv die Stadt unter vulkanischer Asche und Geröll begräbt und für die Zukunft konserviert.

Dirk Uhlenbrock und sein Autor:innen-Team haben Dinge, die es (so) nicht mehr gibt in Wort und Bild in einem nostalgischen Album versammelt (Prestel, 2016): Single und LP, Ton- und Videokassetten, Kugelkopfschreibmaschine, Pocketkamera, Rechenschieber und Walkman sind ebenso von der Bildfläche verschwunden wie das Testbild im Fernsehen.

Dass die Weltgeschichte voller Dinge steckt, die zwar verloren, aber dank Überlieferung noch greifbar sind, zeigt Judith Schalansky in ihrem denkwürdigen Verzeichnis einiger Verluste (Suhrkamp, 2018). Den Phänomenen der Vergänglichkeit hält sie Erinnerung und Imagination entgegen. «Nichts kann im Schreiben zurückgeholt, aber alles erfahrbar werden.»
– Daniel Ammann

Literaturangaben

Gabriel Zuchtriegel
Vom Zauber des Untergangs: Was Pompeji über uns erzählt.
Berlin: Propyläen Verlag, 2023. 240 Seiten.

Dirk Uhlenbrock
Dinge, die es (so) nicht mehr gibt: Ein Album der Erinnerungen.
München: Prestel, 2016. 131 Seiten.

Judith Schalansky
Verzeichnis einiger Verluste.
Berlin: Suhrkamp Verlag, 2018. 252 Seiten.

Fragen über Fragen

Fragen über Fragen

«Fragen über Fragen.»
 Akzente 4 (2023): S. 34.
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Was uns als Menschen auszeichnet und neben empfindsamer Körperlichkeit von leidenschaftsloser KI unterscheidet, ist unser Drang nach Wissen, die unaufhörliche Suche nach Antworten, die in den Enzyklopädien unserer Kultur noch nicht zu finden sind. Für Margaret Atwood sind es die brennenden Fragen, die uns vorantreiben und vorwärtsbringen.

Schreiben und Geschichtenerzählen sind gleichermassen Ausdruck dieser fragenden Grundhaltung. Aus Neugier und Leidenschaft (so der Titel eines früheren Bandes) richtet die kluge und engagierte Autorin seit Jahrzehnten ihren scharfen Blick auf die Wirklichkeit. Auch und vor allem dann, wenn sie uns scheinbar Märchen auftischt. Wie die fiktionalen beflügeln auch ihre essayistischen Gedankenreisen. Sie öffnen eine Luke, offenbaren den doppelten Boden einer fragilen Welt und geben Einblick in ihr Schreiben.
– Daniel Ammann

Margaret Atwood
Brennende Fragen: Essays und Gelegenheitsarbeiten von 2004–2021.
Deutsch von Jan Schönherr, Eva Regul und Martina Tichy.
Berlin: Berlin Verlag, 2023. 704 Seiten.

Magoria by Daniel Ammann