Lesen Sie wohl!

Lesen Sie wohl!

«Lesen Sie wohl!»
Akzente 1 (2025): S. 35.
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Da dies die letzten Medientipps für Akzente sind, gibt es zum Abschied Hinweise auf Bücher mit weiteren Lektüretipps. Die kann man lesen, um herauszufinden, was sich zu lesen lohnt. Die neue ZEIT-Bibliothek der Weltliteratur (Suhrkamp, 2024) legt gleich vor und empfiehlt «100 Bücher, 100 Lebensgefährten». Die Tipps sind nach thematischen Fragen gruppiert, z. B. «Wer begleitet mich durch die Nacht?», «Wer tröstet mich, wenn ich traurig bin?» oder – ein Dauerbrenner – «Wer bin ich?». Viele der Besprechungen stammen übrigens von namhaften Schriftsteller:innen, die man dann ebenfalls auf die Leseliste setzen kann. Für die nächsten Jahre ist also gut vorgesorgt.
Hilfreich bei der Lektürewahl sind mitunter sogar schonungslose Verrisse. In seiner Bestsellerbibel (Piper, 2024) präsentiert der Literaturkritiker Denis Scheck deshalb «Schätze und Schund aus 20 Jahren». Da dürfen «Die Zehn Gebote des Lesens» nicht fehlen, und in 21 pointierten Essays erfährt man, warum die meistverkauften Bücher nicht die besten sind und wozu Literatur überhaupt taugt, ob Bücher Leben retten oder uns zu besseren Menschen machen.
Autorinnen und Autoren produzieren aber nicht nur reichhaltigen Lesestoff. Wie der von Mara Delius und Marc Reichwein heraus­gege­bene Band 111 Action­szenen der Weltliteratur (Aufbau, 2024) auf unterhaltsame Weise demonstriert, liefern auch ihre Lebens­geschichten dramatische Episoden und heitere Anekdoten, die es zu erzählen lohnt.
– Daniel Ammann




Literaturangaben

Zeitverlag Gerd Bucerius, Hrsg.
Die neue ZEIT-Bibliothek der Weltliteratur.
«100 Bücher, 100 Lebensgefährten»
Berlin: Suhrkamp, 2024. 462 Seiten.

Denis Scheck
Schecks Bestsellerbibel zurück.
Schätze und Schund aus 20 Jahren.
München: Piper, 2024. 432 Seiten.

Mara Delius und Marc Reichwein, Hrsg.
111 Actionszenen der Weltliteratur.
Mit 11 Illustrationen von Paul Fretter.
Berlin: Aufbau Verlag, 2024. 384 Seiten.

Immerwährende Freundschaft

Immerwährende Freundschaft

«Immerwährende Freundschaft.»
Akzente 4 (2024): S. 35.
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Das Wort Freundschaft schreibt sich mit F, aber viele ihrer Attribute beginnen – wie das mittelhochdeutsche «vriuntschaft» – mit dem Buchstaben V: Vergangenheit, Vertrauen, Verlässlichkeit und Verständigung. Stabile Freundschaften, so Jutta Georg in ihrer Philosophie der Freundschaft (Brill Fink, 2023), setzen gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen voraus und werden durch geteilte Werte, Vorlieben und Überzeugungen getragen. Gegenseitiges Wohlwollen, Achtung und Wertschätzung dem andern gegenüber unterscheidet die Freundschaft vom profanen Zweckbündnis.
Wenn langjährige Freundschaften vergehen oder an Konflikten zu zerbrechen drohen, stehen diese Grundvoraussetzungen auf dem Spiel. In ihrem Roman Ich komme nicht zurück (DuMont, 2024) erzählt Rasha Khayat, wie Hanna, Cem und Zeyna in ihrer Kindheit zu unzertrennlichen Freunden und Teil einer Wahlfamilie werden, bis Eifersucht, Schuld und rassistische Anfeindungen ihre Freundschaft immer wieder auf eine harte Bewährungsrobe stellen.
Dass Freundschaften ein Leben weit über den Verlust hinaus prägen, beschreibt Emanuele Trevi wehmütig in seiner autobiografischen Erzählung Zwei Leben (Freies Geistesleben, 2024; aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt und Janine Malz). Trevi kämpft gegen das Vergessen an und setzt seinen Freunden Pia Pera und Rocco Carbone ein eindrückliches literarisches Denkmal.
– Daniel Ammann


Literaturangaben

Jutta Georg
Philosophie der Freundschaft.
Paderborn: Brill | Fink, 2023. 181 Seiten.


Rasha Khayat
Ich komme nicht zurück.
Köln: DuMont, 2024. 176 Seiten.


Emanuele Trevi
Zwei Leben.
Erzählung.
Aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt und Janine Malz.
Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben, 2024. 160 Seiten.

Weitere Beiträge zum Thema Freundschaft

Digitale Schieflage

Digitale Schieflage

« Digitale Schieflage.»
 Akzente 3 (2024): S. 34.
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Barrierefreie Demokratie oder Informationsapokalypse? In ihren scharfsinnigen Essays zur Digitalmoderne räumt Eva Menasse mit der Vorstellung auf, Medien seien bloss Werkzeuge und somit für die von Menschen angerichteten Verheerungen nicht verantwortlich. Soziale Medien und manipulative Programme hätten in ihrer Wirkung indes mehr mit bewusstseinsverändernden Drogen als mit harmlosen Werkzeugen gemein.
Dass wir mit einfachen Zuschreibungen nicht weit kommen und vielleicht nicht viel dazugelernt haben, zeigt die Autorin unter anderem in ihrer Analyse der deutschen Antisemitismus­-Debatte. Digitale Massenkommunikation scheint alles zu erfassen und hat innerhalb weniger Jahre menschliches Leben und Verhalten von Grund auf verändert. Dennoch: Die analoge Welt gibt es noch, wie sie mehrfach betont: «Dort stinken die Mülltonnen und müssen die Nabelschnüre Neugeborener händisch von Erwachsenen durchschnitten werden.»
– Daniel Ammann

Digitale Schieflage

Eva Menasse
Alles und nichts sagen: Vom Zustand der Debatte in der Digitalmoderne.
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2023. 192 Seiten.

Faszination des Schreibens

Faszination des Schreibens

Akzente 3 (2024).
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Benedict Wells wollte sich eine Auszeit vom Schreiben nehmen und stolperte in ein neues Buch über das Schreiben. Im Grundton und Aufbau folgt er darin Stephen Kings On Writing: A Memoir of the Craft (2000; dt. Das Leben und das Schreiben), einem unbestrittenen Klassiker des Genres. Auch Wells beginnt mit Autobiografischem. Er blickt zurück auf seine Kindheit und Jugend, erzählt von schwierigen Anfängen und berichtet zwischen schonungsloser Selbstkritik und Ironie, wie er zum Schreiben fand und erst nach zahlreichen Rückschlägen damit Erfolg hatte. «Ich habe Geschichten erfunden», gesteht er im Vorwort, «weil ich meine eigene lange nicht erzählen konnte.»

Teil zwei widmet sich dann in einer Mischung aus Poetikvorlesung und Schreibratgeber den Verfahren und Fallstricken des literarischen Schreibens. Es sind persönliche Schlaglichter, die zwar nicht durchwegs neue Tipps und Einsichten vermitteln, aber in der Verbindung einschlägiger Quellen mit eigenen Schreiberfahrungen und anhand konkreter Textbeispiele aufzeigen, dass es nicht nur den einen richtigen Weg gibt. Scheitern und Durchhaltewillen gehören unweigerlich dazu. Denn – Talent hin oder her – Schreiben bedeutet harte Arbeit. Selbst wenn man von Mal zu Mal dazulernt, die Abläufe kennt und routinierter vorgeht, bedeutet ein neues Buch, dass man wieder ganz von vorne beginnt und vor Fehlern nicht gefeit ist.

Benedict Wells möchte «an der Vorstellung von Autor:innen als Genies im stillen Kämmerchen rütteln» und zeigt die handwerklichen Aspekte und zähen Phasen des Schreibens auf. Vom anfänglichen Funken bis zum fertigen Manuskript und dem veröffentlichten Buch ist es ein weiter Weg, ganz nach dem Motto: «Man kann beim Schreiben alles überarbeiten – ausser weisse Seiten.»

Daniel Ammann, 23.8.2024


Benedict Wells.
Die Geschichten in uns: Vom Schreiben und vom Leben.
Zürich: Diogenes, 2024. 400 Seiten.

Kritik als Kunst

«Wer hat je innegehalten, um die Form oder den Tonfall einer Rezension oder eines kritischen Essays zu bewundern?» Die Frage des New Yorker Filmkritikers Anthony Scott ist berechtigt. Besprechungen von Filmen, Büchern, Theateraufführungen, Konzerten oder Ausstellungen werden als Orientierungshilfe geschätzt, beeinflussen als Verriss oder Lobeshymne vielleicht den Erfolg eines Werks. Aber als eigene Kunstform, wie das schon der berühmte Kritiker und Journalist Alfred Kerr (1867–1948) gefordert hat, wird die Kritik kaum gewürdigt.

Dazu passt auch Ernest Hemingways Bemerkung in A Moveable Feast, als er einem Freund den Rat gibt: «Pass auf, wenn du nicht schreiben kannst – wie wär’s, wenn du’s mal mit Rezensionen versuchen würdest? […] Dann hast du immer was zu schreiben. Du brauchst dir nie mehr Sorgen zu machen, dass nichts mehr kommt, dass du stumm und still geworden bist. Und du hast Leser und Anerkennung.»

Ernest Hemingway in Paris, ein Fest fürs Leben. Deutsch von Werner Schmitz. (Rowohlt 2011)

Noch immer haftet der Kritik das Image der Unkreativität an. Ohne all die kreativen Beiträge, heisst es gerne, hätten die Kritikerinnen und Kritiker gar nichts, worüber sie schreiben könnten. Ausserdem, so Scott, bedeutet kritisieren für viele, «dass man etwas auszusetzen hat, dass man das Negative betont, den Spass verdirbt und sich weigert, auf empfindliche Gefühle Rücksicht zu nehmen.» Dabei sollte man sich für die Kritik durchaus stark machen, wie das in diesem anregenden und aufschlussreichen Buch geschieht. Im Zeitalter der Meinungsmache und Gefällt-mir-Klicks geht gern vergessen, dass Kritik nicht nur Stellung bezieht, sondern Massstäbe anlegt, ohne die ein begründetes Urteil gar nicht möglich ist. Kritik schärft die Wahrnehmung und ebnet den Weg für einen Diskurs.

In seinen Ausführungen und ironischen Selbstgesprächen schüttet Anthony Scott nicht nur sein Herz aus, sondern zeigt auf, welch wichtige Rolle die Kritik seit Jahrhunderten spielt. Viele bedeutende Kritiker, wie die Kulturgeschichte belegt, waren selbst Künstler und umgekehrt. Charles Baudelaire schrieb über moderne Malerei, der Lyriker Philip Larkin über Jazz. Auch Regisseure wie Godard, Chabrol oder Truffaut haben als Filmkritiker angefangen. Das mögen Ausnahmeerscheinungen sein, wie Scott eingesteht, aber in erster Linie sei die Kritik eine «Disziplin des Schreibens» und der Kritiker «eine besondere Spezies der Gattung Schriftsteller». Etwas heruntermachen, bemängeln und anfeinden ist keine Kunst, gute Kritik jedoch erfordert Argumente, klare Begriffe und vor allem Unterscheidungsmerkmale, sprich: Kriterien. Über Geschmack lässt sich nicht streiten – über Kritik schon.

Daniel Ammann

«Über Kritik lässt sich streiten.»
Akzente 1 (23.2.2018).

doi.org/10.5281/zenodo.1250755
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Anthony O. Scott
Kritik üben: Die Kunst des feinen Urteils.
Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer.
München: Carl Hanser, 2017. 320 Seiten.

Mehr als eine Wirklichkeit

Mehr als eine Wirklichkeit

«Mehr als eine Wirklichkeit.»
Akzente 1 (2024): S. 35.
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Die Wahrnehmung schliesst uns mit der Wirklichkeit kurz. Dennoch regen sich Zweifel, ob wir die Realität tatsächlich erfassen können oder ob sie nur eine Illusion im Schattentheater unseres Geistes bleibt.

In seinem Buch Anders sehen (Goldmann, 2018) öffnet uns der Neurowissenschaftler Beau Lotto anhand verblüffender Selbst­versuche Augen und Ohren. Das lüftet den einen oder anderen Wahrnehmungsschleier, ohne die Wirklichkeit zu entzaubern.

Auf ganz andere Weise zieht uns der schottische Autor J. O. Morgan in seinen Science-Fiction-Erzählungen den Boden unter den Füssen weg. Der Apparat (Rowohlt, 2023) entführt in eine Gegenwart, in der sich Objekte und später auch Menschen in Sekundenschnelle durch den Raum teleportieren lassen. Nicht alle sind von dieser bahnbrechenden Erfindung begeistert. Kommt am entfernten Ende wirklich alles an? Auch das Bewusstsein?

Mag sein, dass die Welt im Gehirn nur als virtuelle Realität existiert. Aber wie Thomas Fuchs in seiner beherzten Verteidigung des Menschen (Suhrkamp, 2020) darlegt, sind wir verkörpertes Bewusstsein. Wir leben in ständigem Austausch mit der Umgebung und anderen Wesen, was der Wahrnehmung eine erweiterte Objektivität verleiht.

So viel ist sicher: Nach der Lektüre dieser drei Bücher sehen wir die Wirklichkeit mit neuen Augen.
– Daniel Ammann


Literaturangaben

Beau Lotto
Anders sehen: Die verblüffende Wissenschaft der Wahrnehmung.
Mit zahlreichen Selbsttests.
Aus dem Englischen von Jens Hagestedt u. Katja Hald.
München: Goldmann, 2018. 448 Seiten.


J. O. Morgan
Der Apparat.
Aus dem Englischen von Jan Schönherr.
Hamburg: Rowohlt, 2023. 240 Seiten.


Thomas Fuchs
Verteidigung des Menschen: Grundfragen einer verkörperten Anthropologie.
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2311.
4. Aufl. Berlin: Suhrkamp, 2022. 331 Seiten.

Magoria by Daniel Ammann