Literarischer Perspektivenwechsel

Literarischer Perspektivenwechsel

«Literarischer Perspektivenwechsel.»
Akzente 3 (2024): S. 35.
blog.phzh.ch/akzente/2024/08/23/literarischer-perspektivenwechsel
Download

Mark Twain zufolge handelt es sich bei Klassikern um Bücher, die zwar viel gelobt, aber kaum gelesen werden. Trotz langem Haltbarkeits­datum müssen sie hin und wieder neu aufgelegt werden, damit sie unter Bergen von Novitäten nicht verloren gehen. Für eine Revitali­sierung sorgen dabei weniger die Eingriffe ins Original, um es dem scheinheiligen Zeitgeist zu unterjochen, sondern vielmehr die aufmerksame und den historischen Kontext berücksichtigende Lektüre. Moderne Übersetzungen und Verfilmungen haben es da etwas einfacher, laufen aber gleichfalls Gefahr, die Urfassung zu verbiegen. Warum also nicht frisch ansetzen und dem Stoff eine neue Stimme geben? Genau dies tut Percival Everett mit seinem Roman James (Hanser, 2024). Er lässt Mark Twains Huckleberry Finn (1885) durch den Sklaven Jim erzählen, erweist dem Klassiker dadurch seine literarische Reverenz und liefert modernen Leser:innen gleichzeitig ein sozialgeschichtliches Korrektiv.

Auf ähnliche Weise verfährt Sandra Newman, wenn sie in Julia (Eichborn, 2023) Orwells 1984 (1949) aus Sicht der weiblichen Nebenfigur präsentiert. 

Auch Michael Morpurgos Kinderbuch schafft dieses Kunststück. In Toto (Atrium, 2019) bietet er vertrautes Personal auf und lässt uns «auf vier Pfoten zum Zauberer von Oz» reisen.
– Daniel Ammann


Literaturangaben

Percival Everett
James.
Mit zahlreichen Selbsttests.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl.
München: Hanser, 2024. 336 Seiten.


Sandra Newman
Julia.
Aus dem Englischen von Karoline Hippe.
Köln: Eichborn Verlag, 2023. 445 Seiten.


Michael Morpurgo
Toto: Auf vier Pfoten zum Zauberer von Oz.
Aus dem Englischen von Anne Braun. Mit Bildern von Emma Chichester Clark.
Zürich: Atrium, 2019. 256 Seiten. Ab 7 Jahren.

Es gibt keine Anfänge

Es gibt keine Anfänge
Es gibt keine Anfänge

Zu den Anfängen mit Namensvorstellung kommen wir bei anderer Gelegenheit.1 Hier geht es mir um die präventive Ankündigung der Geschichte, um den Vorbehalt, das Caveat. Die Ich-Erzählerin in Eva Rottmanns Jugendroman Kurz vor dem Rand (Jacoby & Stuart, 2023) steigt mit einer Triggerwarnung ein. Wir sollen uns darauf gefasst machen, dass die Sache schlecht ausgeht. Das weckt unsere Neugierde – und vielleicht auch leise Zweifel. 

Den gleichen rhetorischen Trumpf spielt Daniel Handler (alias Lemony Snicket) im ersten Band seiner «Reihe betrüblicher Ereignisse» aus. Der schreckliche Anfang (The Bad Beginning, dt. v. Klaus Weimann) beginnt so:

Wenn du gern Geschichten mit einem Happy End liest, solltest du lieber zu einem anderen Buch greifen. In diesem gibt es kein Happy End, auch keinen glücklichen Anfang und nur wenig Erfreuliches mittendrin. 

Damit hat uns auch diese Geschichte an der Angel. Wie sagt doch Lord Henry in Oscar Wildes Roman zu Dorian Gray: «Eine Versuchung wird man nur los, indem man ihr nachgibt.» Ein Buch, vor dem wir ausdrücklich gewarnt werden, einer Lektüre, von der uns sogar abgeraten wird, stellt zweifellos eine Verlockung dar, der wir kaum widerstehen können. Wir möchten weiterlesen. Jetzt erst recht. Würde uns hingegen die beste aller Geschichten angepriesen, das grösste Lese-Erlebnis aller Zeiten versprochen, wäre die Antwort wohl eher ein «Vergiss es!». Immerhin wissen wir, was von solch vollmundigen Werbeversprechen zu halten ist.  

Lemony Snicket’s A Series of Unfortunate Events (USA 2004. Regie: Brad Silberling)

Aber schauen wir zuerst, wie das im Einzelnen funktioniert. Während uns Handler auf das unglückselige Leben der Baudelaire-Kinder vorbereitet («Fast alles, was ihnen zustiess, strotzte nur so vor Unheil, Elend und Verzweiflung.») setzt Eva Rottmann noch einen drauf, wenn Ari in rotzigem Ton beifügt, dass wir auf eigene Verantwortung handeln: «Es ist mir ehrlich gesagt scheissegal. Ihr könnt das machen, wie ihr wollt. Ich sag euch einfach, was auf euch zukommt.» Von Bevormundung hält sie – wie sich zeigen wird – definitiv nichts. Damit gibt uns die Ich-Erzählerin auch gleich eine Kostprobe ihrer harten Schale (unter der wir selbstverständlich etwas Empfindsames vermuten).

Hinzu kommt bald eine Lebensweisheit, die man durchaus als poetologisches Programm oder Erzählprinzip deuten darf:

Ich habe überlegt, wie ich anfangen soll, und dann ist mir eingefallen, was Tom mal gesagt hat. Dass es nämlich gar keine Anfänge gibt.

Geschickt verpackt sie darin eine inhaltliche Anspielung. Geht es also um Ari und Tom? Ist das die Lovestory ohne Happy End?

Wenn das Ende nicht gut ist, ist es vielleicht noch nicht das Ende

Als das grosse rote Buch, in dem Ari ihre Erlebnisse aufschreibt, fast voll ist, erreicht die Geschichte zwar ihren vorläufigen Schluss. Aber so wie es keine Anfänge gibt, ist mit dem fehlenden Happy End noch nicht das letzte Wort gesprochen. Ari liest noch einmal die beiden Anfangssätze ihres ersten Eintrags und muss plötzlich lachen. 

Eva Rottmann
Kurz vor dem Rand.
Berlin: Verlagshaus Jacoby & Stuart, 2023. 192 Seiten. Ab 14 Jahren.

  1. Herman Melvilles Moby-Dick mit seinem weltberühmten Anfangssatz wird uns sicher noch beschäftigen, aber um es für den Moment mit Melvilles Bartleby zu sagen: «Ich möchte lieber nicht.»  ↩︎

Neue Briefromane

Neue Briefromane

«E-Mails à gogo.»
Akzente 2 (2023): S. 35.
blog.phzh.ch/akzente/2023/05/23/e-mails-a-gogo
Download

Der Briefroman feiert ein Comeback und schlägt mit digitalem Pingpong ein zeitgemässes Tempo an. Daniel Glattauers E-Mail-Romanze Gut gegen Nordwind hat es inzwischen ins Kino und zu Netflix geschafft (Vanessa Jopp, 2019).

Ein schonungslos ehrlicher Briefwechsel, so heisst es in Zwischen Welten von Juli Zeh und Simon Urban, sei eine interessante Sache, man lerne eine Menge über sich selbst und die anderen (Luchterhand, 2023). Das gilt, wie der unzimperliche Titel vermuten lässt, auch für Liebes Arschloch von Virginie Despentes (Kiepenheuer & Witsch, 2023). Da wie dort nehmen die Figuren kein Blatt vor den Mund und verhandeln persönliche Midlife-Krisen und gesellschaftliche Themen unserer Zeit mit gnadenloser Direktheit.

Ebenso frisch und frech, aber weniger abgeklärt klingt es in Holly Goldberg Sloans und Meg Wolitzers turbulentem Jugendroman An Nachteule von Sternhai (Hanser, 2019). «Ich kenne dich nicht», beginnt die abenteuerlustige Bett ihre Mail an die altkluge und von Lebensängsten geplagte Avery. «Aber ich schreibe dir trotzdem.» Tatsächlich dreht sich zu Beginn alles darum, dass die zwölfjährigen Girls nichts miteinander zu tun haben wollen. Nur weil ihre alleinerziehenden Väter sich ineinander verliebt haben, muss das noch lange nicht bedeuten, dass die beiden Töchter sich kennenlernen und gleich Schwestern werden wollen. Ein fulminanter Auftakt, der hält, was er verspricht.
– Daniel Ammann

Literaturangaben

Gut gegen Nordwind.
Regie: Vanessa Jopp.
Deutschland 2019.
DVD Sony Pictures Home Entertainment und Netflix.

Juli Zeh und Simon Urban
Zwischen Welten.
München: Luchterhand Literaturverlag, 2023. 446 Seiten.

Virginie Despentes
Liebes Arschloch.
Aus dem Französischen von Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis.
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2023. 336 Seiten.

Holly Goldberg Sloan und Meg Wolitzer
An Nachteule von Sternhai.
Aus dem Englischen v. Sophie Zeitz.
München: Hanser, 2019. 288 Seiten.
Ab 10 Jahren.

Die Zukunft von gestern

Die Zukunft von gestern

«Die Zukunft von gestern.»
 Akzente 1 (2023): S. 34.
 blog.phzh.ch/akzente/2023/02/24/die-zukunft-von-gestern
Download

1996 ist das Internet noch eine Wüste. Kein Google, kein Wikipedia, ganz zu schweigen von Youtube, Social Media oder Netflix. Als die 16-jährige Emma von ihrem Vater ihren ersten Computer und von Nachbarsfreund Josh einen AOL-Zugang bekommt, gibt es im Netz also noch nicht viel zu sehen. Aber Emma macht eine ungeheure Entdeckung.

Auf einer Website namens Facebook stösst sie auf das Profil ihres älteren Ichs. Das Verrückte daran ist, dass sich die Angaben laufend verändern. Gemeinsam mit Josh, der in 15 Jahren offenbar mit der reichen Highschoolschönheit verheiratet ist, versucht sie dem Rätsel auf den Grund zu gehen. Wie soll man sich verhalten, wenn jeder kleinste Schritt extreme Auswirkungen auf die Zukunft hat und man alles in Echtzeit verfolgen kann? In seinem Jugendroman, der abwechselnd aus Emmas und Joshs Perspektive erzählt, verknüpft das Autorenduo Mediengeschichte mit spekulativen Zukunftsversionen. Das regt zum Nachdenken und Fantasieren an.
– Daniel Ammann

Jay Asher und Carolyn Mackler
Wir beide, irgendwann.
Aus dem Englischen von Knut Krüger.
München: cbj, 2014. 400 Seiten. Ab 12 Jahren.

Die Entdeckung der Langeweile

Die Entdeckung der Langeweile

«Die Entdeckung der Langweile»
Buch & Maus 2 (2024): S. 2–4.
Download

Selbst das grösste Unterhaltungsangebot bewahrt uns nicht vor dem Gefühl von Überdruss, Leere und Frustration: vor Langeweile. Um ihr beizukommen, braucht es Antrieb und Motivation – auch beim Lesen. Und manchmal führt Langeweile in ihren Gegenpol, den Flow, in dem man in einer Beschäftigung aufgeht.

 

Magoria by Daniel Ammann