Übersetzen schärft die Sinne

Wir hoffen immer auf die beste und ultimative Übersetzung. Aber die gibt es nicht. Oder allenfalls nur für den Moment. Deshalb brauchen gute Bücher mehrere oder sogar ganz viele Übersetzungen. Der galoppierende Flaubert war nur ein Beispiel.

David Lodge: Die Kunst des Erzählens (Zürich: Haffmans, 1993)

Als ich 1993 an der Übersetzung von David Lodges The Art of Fiction arbeitete, war das Internet noch keine Hilfe. Lodge beginnt jedes thematische Kapitel mit einem oder mehreren Zitaten aus der englischen oder amerikanischen Literatur. Da die meisten dieser Texte in deutscher Übersetzung vorlagen, habe ich in Bibliotheken und Buchandlungen herumgestöbert und versucht, die entsprechenden Textpassagen ausfindig zu machen. Sie sollten den Ton wiedergeben, den Leserinnen und Leser in den deutschen Ausgaben antreffen. Die Aufgabe war nicht ganz einfach, weil nur Autor und Titel, aber nicht das betreffende Kapitel oder gar eine Seitenzahl angegeben war. So habe ich zuerst im Original nach der zitierten Textstelle gesucht und mir nachher eine deutsche Übersetzung besorgt. Nebenbei bemerkt: Mit dem bescheidenen Seitenhororar des Übersetzers wird dieser Rechercheaufwand kaum gebührend entschädigt. Die detektivische Spurensuche war dafür anregend und bot eine gesunde Abwechslung zur Schreibtischarbeit.
Der Haken war allerdings, dass die mühsam aufgetriebenen Passagen dann oft doch nicht passten. So fehlen zum Beispiel in der Salinger-Übersetzung von Heinrich Böll ausgerechnet jene Charakteristiken, auf die Lodge in seinem Kapitel über Teenagersprache eingeht. Ich hatte also zwei Möglichkeiten: Entweder ich übersetzte den Text nun doch selber oder versuchte die bestehende Version dahingehend zu frisieren, dass sie dem Kommentar gerecht wurde.
Heute wäre die Arbeit etwas einfacher. Zum einen können viele der Übersetzungen im Netz recherchiert, konsultiert und verglichen werden, zum anderen erlauben digitale Versionen eine Volltextsuche. Und zu guter Letzt: Einige der von Lodge angeführten Texte liegen inzwischen in frischen Übertragungen vor. Zum Glück auch Salinger.

Übersetzen schärft die Sinne: In weiteren Beiträgen dieser Kategorie möchte ich an ausgewählten (und nicht nur eigenen) Beispielen zeigen, was die Schönheiten und Schwierigkeiten der Übersetzungsarbeit ausmacht.

Daniel Ammann, März 2015

Charles Bovary galoppiert

Charles Bovary galoppiert

Am liebsten ist es mir, wenn die Poesie wie eine Perle in der Prosa prunkt. Verborgen, damit ich sie beim aufmerksamen Lesen entdecke.
Flaubert macht es in seiner Madama Bovary (1857) so:
«Charles, à la neige à la pluie, chevauchait par les chemins de traverse.»

Elisabeth Edl weist im Kommentar ihrer hoch­ge­lobten Übersetzung (2012, 693) darauf hin, dass der Meister das ‹und› zwischen ‹à la neige à la pluie› erst in der Édition définitive von 1873 ge­strichen hat. Auch sie lässt uns in ihrer Version das Pferde­getrap­pel hören:

Form follows function. Im Deutschen scheinen die Konsonanten (g-p-b-g-b-b-b-k-g-g) den Galopp akustisch sogar noch kräftiger zu untermalen.
Walter Widmer schafft in seiner älteren Übersetzung (1959; dtv, 2006) zwar den Rhythmus, schwächt das akustische Bild aber durch festgefahrene Wortbilder: «Charles ritt währenddessen bei Regen und Schnee, bei Wind und Wetter über Stock und Stein.»
Beide liegen meilenweit über dem, was Arthur Schurig 1912 zu Wege brachte:
«Karl trabte indessen bei Wind und Wetter seine Landstrassen hin.»1 Der Sinn wird transportiert. Aber das war’s dann schon.

Daniel Ammann, 17.2.2015 (aktualisiert 18.5.2025)


  1. For comparison – Eleanor Marx Aveling’s English translation (1886; Barnes & Noble, 2005) runs like this: «Charles in snow and rain trotted across country.» ↩︎


Quellen:
Flaubert, Gustave. Madame Bovary. Herausgegeben u. übersetzt v. Elisabeth Edl. München: Hanser, 2012. 760 Seiten. 

Erinnerungen an den Lockdown

Erinnerungen an den Lockdown

«Erinnerungen an den Lockdown.»
Akzente 2 (2024): S. 35.
blog.phzh.ch/akzente/2024/05/27/erinnerungen-an-den-lockdown
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Krisen spalten die Gesellschaft, bringen Menschen gegeneinander auf, rücken sie aber auch näher zusammen. In dem von Margaret Atwood und Douglas Preston herausgegebenen Romanprojekt Vierzehn Tage (dtv, 2024) begegnen sich die Bewohner:innen eines New Yorker Mietshauses im Lockdown jeden Abend auf dem Dach. Man hält Abstand und will nichts miteinander zu tun haben. Dennoch wächst unter den Isolierten eine launische Verbundenheit. So verschieden diese Menschen sind, so gegensätzlich und doch gleichartig sind die Geschichten, die sie sich (bzw. die 36 Autor:innen) reihum erzählen. 

Von einer vertrauteren Schicksalsgemeinschaft handelt Am Meer von Elizabeth Strout (Luch­ter­hand, 2024). Die Autorin Lucy wird zu Beginn der Pandemie von ihrem Ex-Mann gedrängt, New York zu verlassen und mit ihm in ein Landhaus in Maine zu ziehen. Aus Wochen werden Monate und vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Verwerfungen geraten auch Freundschaften und Familien unter Druck. 

Dem belgischen Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint scheint die Covid-Krise eher entgegenzukommen, wie er gesteht. Die Arbeit an der auobiografischen Erzählung Das Schachbrett (FVA, 2024) hält ihn über Wasser und lässt Erinnerungen an den Vater, die Anfänge der Liebe und des Schreibens mit seiner alten Schachleidenschaft wundersam verschmelzen.
– Daniel Ammann


Literaturangaben

Margaret Atwood und Douglas Preston, Hrsg.
Vierzehn Tage.
Deutsch von Pieke Biermann, Christine Blum, Christiane Burkhardt, Svenja Geithner, Susanne Goga-Klinkenberg, Susanne Höbel, Brigitte Jakobeit, Stephan Kleiner, Claudia Max, Hella Reese u. Mechtild Sandberg-Ciletti.
München: dtv, 2024. 480 Seiten.


Elizabeth Strout
Am Meer.
Deutsch von Sabine Roth.
München: Luchterhand, 2024. 286 Seiten.


Jean-Philippe Toussaint
Das Schachbrett.
Aus dem Französischen von Joachim Unseld.
Frankfurt/M.: Frankfurter Verlagsanstalt, 2024. 256 Seiten.

 

Mehr über Schach:

Schachgeschichten

Mehr als eine Wirklichkeit

Mehr als eine Wirklichkeit

«Mehr als eine Wirklichkeit.»
Akzente 1 (2024): S. 35.
blog.phzh.ch/akzente/2024/02/23/mehr-als-eine-wirklichkeit/
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Die Wahrnehmung schliesst uns mit der Wirklichkeit kurz. Dennoch regen sich Zweifel, ob wir die Realität tatsächlich erfassen können oder ob sie nur eine Illusion im Schattentheater unseres Geistes bleibt.

In seinem Buch Anders sehen (Goldmann, 2018) öffnet uns der Neurowissenschaftler Beau Lotto anhand verblüffender Selbst­versuche Augen und Ohren. Das lüftet den einen oder anderen Wahrnehmungsschleier, ohne die Wirklichkeit zu entzaubern.

Auf ganz andere Weise zieht uns der schottische Autor J. O. Morgan in seinen Science-Fiction-Erzählungen den Boden unter den Füssen weg. Der Apparat (Rowohlt, 2023) entführt in eine Gegenwart, in der sich Objekte und später auch Menschen in Sekundenschnelle durch den Raum teleportieren lassen. Nicht alle sind von dieser bahnbrechenden Erfindung begeistert. Kommt am entfernten Ende wirklich alles an? Auch das Bewusstsein?

Mag sein, dass die Welt im Gehirn nur als virtuelle Realität existiert. Aber wie Thomas Fuchs in seiner beherzten Verteidigung des Menschen (Suhrkamp, 2020) darlegt, sind wir verkörpertes Bewusstsein. Wir leben in ständigem Austausch mit der Umgebung und anderen Wesen, was der Wahrnehmung eine erweiterte Objektivität verleiht.

So viel ist sicher: Nach der Lektüre dieser drei Bücher sehen wir die Wirklichkeit mit neuen Augen.
– Daniel Ammann


Literaturangaben

Beau Lotto
Anders sehen: Die verblüffende Wissenschaft der Wahrnehmung.
Mit zahlreichen Selbsttests.
Aus dem Englischen von Jens Hagestedt u. Katja Hald.
München: Goldmann, 2018. 448 Seiten.


J. O. Morgan
Der Apparat.
Aus dem Englischen von Jan Schönherr.
Hamburg: Rowohlt, 2023. 240 Seiten.


Thomas Fuchs
Verteidigung des Menschen: Grundfragen einer verkörperten Anthropologie.
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2311.
4. Aufl. Berlin: Suhrkamp, 2022. 331 Seiten.

Das Verschwinden der Welt

Das Verschwinden der Welt

«Das Verschwinden der Welt.»
Akzente 4 (2023): S. 35.
blog.phzh.ch/akzente/2023/11/27/das-verschwinden-der-welt/
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Die Welt um uns herum löst sich unweigerlich auf, verschwindet allmählich in der Vergangenheit und bleibt doch gegenwärtig. Durch einen materiellen Schleier erahnen wir die verblasste Wirklichkeit in Relikten und Artefakten. Mediale Spuren und Erinnerungen lassen sie gelegentlich wieder aufleben.

In seinem Buch Vom Zauber des Untergangs (Propyläen, 2023) berichtet Gabriel Zuchtriegel, Direktor des Archäologischen Parks von Pompeji, was die Ausgrabungsstätte über uns erzählt. Am 25. Oktober 79 n. u. Z. bleibt die Zeit stehen, als der Vesuv die Stadt unter vulkanischer Asche und Geröll begräbt und für die Zukunft konserviert.

Dirk Uhlenbrock und sein Autor:innen-Team haben Dinge, die es (so) nicht mehr gibt in Wort und Bild in einem nostalgischen Album versammelt (Prestel, 2016): Single und LP, Ton- und Videokassetten, Kugelkopfschreibmaschine, Pocketkamera, Rechenschieber und Walkman sind ebenso von der Bildfläche verschwunden wie das Testbild im Fernsehen.

Dass die Weltgeschichte voller Dinge steckt, die zwar verloren, aber dank Überlieferung noch greifbar sind, zeigt Judith Schalansky in ihrem denkwürdigen Verzeichnis einiger Verluste (Suhrkamp, 2018). Den Phänomenen der Vergänglichkeit hält sie Erinnerung und Imagination entgegen. «Nichts kann im Schreiben zurückgeholt, aber alles erfahrbar werden.»
– Daniel Ammann

Literaturangaben

Gabriel Zuchtriegel
Vom Zauber des Untergangs: Was Pompeji über uns erzählt.
Berlin: Propyläen Verlag, 2023. 240 Seiten.

Dirk Uhlenbrock
Dinge, die es (so) nicht mehr gibt: Ein Album der Erinnerungen.
München: Prestel, 2016. 131 Seiten.

Judith Schalansky
Verzeichnis einiger Verluste.
Berlin: Suhrkamp Verlag, 2018. 252 Seiten.

Fragen über Fragen

Fragen über Fragen

«Fragen über Fragen.»
 Akzente 4 (2023): S. 34.
blog.phzh.ch/akzente/2024/02/23/fragen-ueber-fragen
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Was uns als Menschen auszeichnet und neben empfindsamer Körperlichkeit von leidenschaftsloser KI unterscheidet, ist unser Drang nach Wissen, die unaufhörliche Suche nach Antworten, die in den Enzyklopädien unserer Kultur noch nicht zu finden sind. Für Margaret Atwood sind es die brennenden Fragen, die uns vorantreiben und vorwärtsbringen.

Schreiben und Geschichtenerzählen sind gleichermassen Ausdruck dieser fragenden Grundhaltung. Aus Neugier und Leidenschaft (so der Titel eines früheren Bandes) richtet die kluge und engagierte Autorin seit Jahrzehnten ihren scharfen Blick auf die Wirklichkeit. Auch und vor allem dann, wenn sie uns scheinbar Märchen auftischt. Wie die fiktionalen beflügeln auch ihre essayistischen Gedankenreisen. Sie öffnen eine Luke, offenbaren den doppelten Boden einer fragilen Welt und geben Einblick in ihr Schreiben.
– Daniel Ammann

Margaret Atwood
Brennende Fragen: Essays und Gelegenheitsarbeiten von 2004–2021.
Deutsch von Jan Schönherr, Eva Regul und Martina Tichy.
Berlin: Berlin Verlag, 2023. 704 Seiten.

Magoria by Daniel Ammann