Gebrochene Gebote #1 – Alliteration

An Empfehlungen für gute Texte fehlt es nicht. Wie bei Kurt Tucholskys «Ratschlägen für einen schlechten Redner» macht die Sache aber mit Ironie und Widerspruch erst Spass. In seiner Kolumne «On Language» hat William Safire 1979 im New York Times Magazine 36 «Fumblerules of Grammar» aufgestellt und dem Thema später ein ganzes Buch gewidmet. Hier sieben Kostproben seiner «ungeschickten Grammatikregeln» (in der Übersetzung von Oskar Rauch):

«Keine Halbsätze.»
«Seien Sie sparsam mit Ausrufezeichen!!!»
«Lesen Sie sorgfältig Korrektur, um sicherzugehen, dass keine Wörter ausgelassen haben.»
«Hände hoch vor falschen Redewendungen.»
«Variieren Sie bei der Wortwahl, denn Varianten sorgen für Variation.»
«Packen Sie den Stier bei der Hand, die ihn füttert, und vermeiden Sie es, Redewendungen zu mischen.»
«Vermeiden Sie Zitate. Wie sagt schon Ralph Waldo Emerson: ‹Ich hasse Zitate. Sagen Sie mir lieber, was Sie selbst wissen.›»

(Quelle: Usher 2015, 189–191)

In der Juni-Ausgabe 1986 von Writer’s Digest legt Frank L. Visco eine ähnliche Liste vor, die in unterschiedlichen Versionen im Netz kursiert.
In (geplanten) zehn Beirägen will ich mich aus diesem reichen Schatz selbstironischer Regeln bedienen und meine Version jeweils durch ungehorsame Beispiele aus der Literatur ergänzen. Eine Regel für Autorinnen und Autoren lautet ja: Kenne die Regeln und brich sie.

Den Anfang macht der Anreim:

#1 Allen Alliterationen abschwören. Ausnahmslos.

Keine Ahnung, warum der gute alte Stabreim in Ungnade gefallen ist. Ich schätze ihn über alles.
Wirkt der deutsche Titel Drachen, Doppelgänger und Dämonen von Oliver Sacks’ Buch Hallucinations nicht passender und weniger prosaisch als das Original? Oder nehmen wir den rhythmisch-stabreimenden letzten Satz aus F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby: «So we beat on, boats against the current, borne back ceaselessly into the past.» Auch Truman Capote schliesst seinen Tatsachenroman Kaltblütig mit einem kraftvoll alliterativem Schlusssatz: «Dann machte er sich auf den Heimweg, unter den Bäumen hindurch, und liess den weiten Himmel hinter sich, das Wispern des Windes im wogenden Weizen.»

Walter Abish baut in seinem Roman Alphabetical Africa sein erstes Kapitel sogar ausschliesslich aus Wörtern mit A: «Abermals Afrika: Als Albert ankommt, angeregt argumentiert, afrikanische Ausstellungskunst abhandelt, an afrikanischer Angst auseinandersetzt, aber auch, ach, ausgerechnet Ashanti-Architektur angreift …» (Lodge 1998, 157).

Bewusst eingesetzt treten Alliterationen akzentuiert gegen Alltagsgelaber an und vermögen Absätze ausdrucksmächtig aufzuladen.

Postscriptum:
Die Verlockung war zu gross. So habe ich selbst den Versuch unternommen, eine alliterative Geschichte als Tautogramm zu verfassen: «Adeles Aufstieg». Sie umfasst 430 Wörter und beginnt so:

Adele Abderhalden, Adoptivtochter alteingesessener Apotheker aus Affoltern am Albis, arbeitet Anfang Achtzigerjahre aushilfsweise als Aupairmädchen aristokratischer Aargauer. Angenehme Aufgaben. Ausserdem allerhand Annehmlichkeiten: aparte Attikawohnung, Auto auf Abruf, allabendlicher Ausgang. Andererseits auch aufreibend. Arbeitgeber ausgesprochen angetan, aber arrogant. Aufgrund altertümlicher Auffassungen Adeles adrettes Aussehen als Aufforderung ausgelegt – also andauernde Anmache, Anzüglichkeiten aller Art, auch anstössige Anspielungen auf Adeles aufreizenden A…


Abish, Walter. Alphabetical Africa / Alphabetisches Afrika. Amerikanisch und Deutsch. Übersetzt von Jürg Laederach. Schupfart: Engeler Verlag, 2002. 

Capote, Truman. Kaltblütig: Wahrheitsgemässer Bericht über einen mehrfachen Mord und seine Folgen. Aus dem Amerikanischen von Thomas Mohr. Hrsg. v. Anuschka Roshani. Zürich: Kein & Aber, 2007. 

Lodge, David. Die Kunst des Erzählens. Illustriert anhand von Beispielen aus klassischen und modernen Texten. Aus dem Englischen von Daniel Ammann. Zürich: Haffmans, 1993. / München u. Zürich: Diana (Heyne), 1998. 

Sacks, Oliver. Drachen, Doppelgänger und Dämonen: Über Menschen mit Halluzinationen. Aus dem Englischen von Hainer Kober. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2013.
Kurzrezension «Wenn das Gehirn die Wirklichkeit manipuliert.» ph akzente 2 (2013): S. 30. 

Usher, Shaun, Hrsg. Lists of Note: Aufzeichnungen, die die Welt bedeuten. München: Heyne, 2015.
Kurzrezension «Bemerkenswerte Listen.» in ph akzente 1 (2016): S. 34. 

Der letzte Satz: «Mann im Dunkel» von Paul Auster

«Yes, Dad, she says, studying her daughter with a worried
look in her eyes, the weird world rolls on.»
«Ja, Dad, sagt sie und betrachtet ihre Tochter aus  sorgenvollen
Augen, die wunderliche Welt dreht sich weiter.»
Paul Auster, Man in the Dark / Mann im Dunkel

Paul Auster: Mann im DunkelNach einem Autounfall bleibt der 72-jährige Ich-Erzähler August Brill an den Rollstuhl gefesselt. Nachts liegt er wach und verdrängt schmerzhafte Erinnerungen, indem er sich eine Geschichte ausdenkt. «Nichts Besonderes», meint er, «aber solange ich mich damit beschäftige, muss ich schon nicht an die Dinge denken, die ich lieber vergessen möchte.» Man schreibt das Jahr 2007. Die Anschläge vom 11. September haben niemals stattgefunden, und statt im Irak wütet ein erbitterter Krieg im eigenen Land.

Paul Auster lässt seinen hintergründigen Roman über menschliches Schicksal, Parallelwelten und die unbändige Kraft des Erzählens mit einem Satz von Rose Hawthorne enden. Sie war das jüngste von Nathaniel Hawthornes drei Kindern und Brills Tochter Miriam schreibt eine Biografie über sie. «Rose Hawthorne war keine besonders gute Dichterin, oder?», fragt Brill. «Nein», antwortet Miriam. «Ehrlich gesagt, war sie furchtbar schlecht.» Aber ein Satz aus ihrem Gedichtband Along the Shore hat es beiden angetan: «The weird world rolls on.»

Bei Rose Hawthorne lautet die Stelle: «As the weird earth rolls on». Ist es Zufall oder Absicht, dass Auster diese eine Zeile mit einem Stabreim aufwertet? In der deutschen Übersetzung von Werner Schmitz wird daraus sogar eine dreifache Alliteration: Die wunderliche Welt dreht sich weiter. Sieben Mal kommt der Satz in Mann im Dunkel vor und hallt am Ende als Schlussakkord nach – «lakonisch, im Grunde abgedroschen und trotzdem zutiefst weise», meinte Jürgen Brôcan in seiner NZZ-Rezension (2.12.2008, 43). Die genaue Quelle wird im Roman nicht erwähnt, aber passenderweise stammt die Zeile aus einem Gedicht mit dem Titel «Closing Chords».


Auster, Paul. Man in the Dark. London: Faber and Faber, 2009. 180 Seiten.
Auster, Paul. Mann im Dunkel. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2008. 220 Seiten.

Magoria by Daniel Ammann