Um die Ecke erzählen

Um die Ecke erzählen

Der erste Satz lässt es erahnen: Hier wird keine konventionelle Geschichte, sondern vielmehr um zwei und mehr Ecken herum erzählt. Dorothee Elmiger gibt zu, dass dies Ausdruck ihrer grundsätzlichen Skepsis gegenüber dem Erzählen sei. Man kann sich der Ver­führungs­kunst des Erzählens durchaus mit zwielichtigen Konjunktiv ent­gegen­stemmen. Im gleichen Zug jedoch verabreicht uns die Autorin auf subtile Weise einen Text, der eine fiktive Schriftstellerin in einem Hörsaal auftreten und vor Publikum sprechen lässt. Was diese erzählt, erfahren wir in indirekter Rede, aber ihre physische Gegenwart wird im Indikativ (in der Grammatik auch Wirklichkeitsform genannt) leibhaftig herauf­beschworen. 116 mal ‹sagt› sie, 14 mal ‹blättert› sie, 6 mal ‹schaut› sie, 5 mal ‹trinkt› sie, 4 mal ‹hebt› sie den Blick, 3 mal ‹nimmt› sie die Lesebrille, 2 mal ‹bedankt› sie sich. Sie greift zum bereit­gestellten Wasserglas, räuspert sich, lächelt, verlagert ihr Gewicht, streicht sich mit den Fingern über die Nasenwurzel. 

Dorothee Elmiger in der Lokremise St. Gallen am 1. Okt. 2025

Deshalb gehe ich der Erzählskepsis der Autorin nicht vollends auf den Leim. Selbst­verständlich verwehrt oder verstellt sie uns durch die erzählende Schrift­stellerin am Rednerpult den direkten Blick auf die Geschehnisse. Aber ebenso steht diese Figur für konkrete Augen­zeugen­schaft. Sie berichtet. Sie war dabei. Eine andere Quelle gibt es nicht – abgesehen vom tatsächlichen Verschwinden zweier Holländerinnen im Dschungel ausserhalb des Textes. 

Dieses doppelbödige Erzählen mit kaleidoskopartigen Perspektiven­wechseln und das narrative Spiel mit Rahmung, Rückschau und Rekonstruktion eines versuchten Reenactments erinnern mich an Joseph Conrad, dessen Herz der Finsternis diesen Roman wohl in mehrfacher Hinsicht mit beeinflusst hat. 

Daniel Ammann, 4.10.2025


Charles Dickens und sein letztes Rätsel

Charles Dickens und sein letztes Rätsel

Charles Dickens beginnt seinen unvollendeten Roman Das Geheimnis des Edwin Drood gleich mit mehreren Fragen. Die ersten vier Sätze springen uns mit verstörenden Trugbildern und Rätseln an und bereiten uns durch Irritation schon auf Besuche in der Opiumhöhle vor. Seltsam mutet es auch an, dass die vermeintlichen Aussagesätze (1 und 3) mit einem Fragezeichen und die offensichtlichen Fragesätze (2 und 4) mit einem Ausrufezeichen enden. Weshalb hat man diese subtile Verstörung in der deutschen Ausgabe grammatikalisch eingeebnet und vier Mal ein Fragezeichen gesetzt? Auch die gelungene BBC-Adaption fängt übrigens wie ein Fiebertraum an, mit einer Fata Morgana in der flimmernden Wüste.

Mit seinem letzten Roman hat uns Dickens einen literarhistorischen Cliffhanger hinterlassen. Er fährt sein ganzes Können auf, legt Fährten, aber eine Auflösung bleibt er uns schuldig. Wir wissen noch nicht einmal, ob der ‹Unnachahmliche› das Ende überhaupt schon im Kopf hatte, als der Tod seinem Schreiben ein Ende setzte.

Das ungelöste Rätsel demonstriert wieder mal, dass eine Geschichte bis zum Schluss noch alle möglichen Wendungen nehmen kann. Denn die Logik der Handlung erschliesst sich erst im Nachhinein. Als Leser:innen halten wir den Schlüssel zu einer plausiblen Lösung zwar in der Hand, aber wir wissen nicht, welche Tür er letztlich öffnet.

Daniel Ammann, 28.9.2025


Lingua madre

Lingua madre

Erste gesprochene Worte und erste gedruckte Sätze – das passt gut zusammen. 
In Maddalena Fingerles Debütroman Muttersprache schlägt sich der Ich-Erzähler mit Sprachen herum. Er sei von Wörtern besessen, heisst es im Klappentext. «Wörter haben für ihn Geruch, Farbe oder Klang.» 

Lingua madre

Vielleicht erklärt diese Leidenschaft und das Gefangensein in Mehrsprachigkeiten und kultureller Vielfalt den logischen Widerspruch dieses Anfangs, der die Geburt und den Beginn des Sprechens in eins setzt und zeitlich zusammenfallen lässt. 

Ist er als Hinweis darauf zu lesen, dass wir durch den Spracherwerb noch einmal geboren werden und sich unsere persönliche und kulturelle Identität damit erst richtig auf den Weg macht?

 Daniel Ammann, 1.9.2025


Maddalena Fingerle
Muttersprache.
Aus dem Italienischen von Maria E. Brunner..
Wien: Folio Verlag, 2022. 191 Seiten.

 

 

Der Tag, an dem der Milchmann starb

Der Tag, an dem der Milchmann starb

Ein bisschen riskant ist es schon, wenn wir im ersten Satz schon um das Leben der Ich-Erzählerin bangen müssen. Noch ehe wir sie kennenlernen. Dann kippt die Bedrohung am Ende allerdings gleich wieder weg, weil es einer anderen Figur an den Kragen geht. Ob das eine mit dem anderen zu tut hat, kann nur die Lektüre beantworten. 

Und wer hätte erwartet, dass wir auf Seite 450 nach einer düsteren Geschichte auf einen so wunderbar hellen Schlusssatz zusteuern? – «Und als ich auf dem Gehweg in Richtung des Parks mit den Stauteichen aufkam, atmete ich das Licht wieder aus, und kurz, ganz kurz, musste ich beinahe fast lachen.» Die letzten vier Worte mit diesem zauberhaft zwinkernden Doppler in der Mitte klingen nach. 

Daniel Ammann, 22.7.2025

Der Tag, an dem der Milchmann starb

Anna Burns
Milchmann.
Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll.
Stuttgart: Tropen-Verlag, 2020. 452 Seiten.

Ich schreibe dir trotzdem

Ich schreibe dir trotzdem

Erste Sätze haben es in sich. Und sie verraten uns eine ganze Menge. Der Kinderroman der Autorinnen Sloan und Wolitzer zum Beispiel eröffnet mit einer E-Mail und lässt schon durchblicken, dass sich Bett und Avery noch nicht kennen. Aber dabei wird es wohl nicht bleiben, denn es folgen noch viele weitere E-Mails.

Der abrupte und verblüffende Einstieg in eine Geschichte hat auch Eingang in unser Lehrmittel Apropos Medien 5/6 gefunden – und zwar in der Rubrik Flaschenpost (Kap. 6, S. 45). Hat nicht jede E-Mail und jeder Romananfang etwas von einer geheimnisvollen Flaschenpost? Kommunikation beginnt mit dem ersten Satz, manchmal noch ehe man weiss, mit wem man es zu tun hat, woher die Botschaft kommt und worauf man sich einlässt. 

Daniel Ammann, 15.7.2025

Holly Sloan und Meg Wolitzer
An Nachteule von Sternhai
.

Aus dem Englischen v. Sophie Zeitz.
München: dtv, 2021. 288 Seiten. Ab 11 Jahren.

Bartleby mag einfach nicht

Bartleby mag einfach nicht

Vor ein paar Jahren, vermutlich 2018, spielte ich mit dem Gedanken, Herman Melvilles Meistererzählung «Bartley, the Scrivener» ins Deutsche zu übertragen. Nicht als Erster natürlich, aber es wäre ein gute Übung, um literatur- und sprachwissenschaftlich in Schwung zu bleiben. Man liest ja nie genauer, als wenn man einen Text Satz für Satz in eine andere Sprache transportiert. Bekanntlich geht es dabei nicht nur um die inhaltliche Fuhre semantische Präzision und ein zeitge­mässes Register. Man möchte vor allem die passende Atmosphäre schaffen, den Ton zu treffen und dem Stil des Ausgangs­textes gerecht werden. Also ein waghalsiges Spiel, bei dem es sprachlich und literarisch zur Sache und dem Übersetzer oder der Übersetzerin an den Kragen geht, sollte das Unterfangen missglücken. 1

Aus ebendiesen Gründen macht es aber auch unendlichen Spass, über linguistische Feinheiten und kalauernde Grobheiten nachzudenken und mit Gleichgesinnten zu diskutieren, wie wir das monatlich am Zürcher Übersetzer:innen-Treffem unter Ulrich Blumenbachs Leitung in der James-Joyce-Stifung praktizieren . Manchmal fördert das Schwarm­denken überraschend eine mehrheits­fähige Lösung zutage, dann wieder verzetteln wir uns gehörig und kommen zu keiner Einigung. Die Übersetzer:innen, die eine Knacknuss mitgebracht haben, gehen mit nützlichen Anregungen nach Hause, auch wenn die seligmachende Variante oft noch nicht gefunden ist. Fast schlimmer: Sie müssen sich für eine von mehreren genialen Lösungen entscheiden – und das Feuilleton urteilt dann selbstgerecht, sie seien zu weit oder doch nicht weit genug gegangen, hätten sich falsch entschieden, zu viel Mut oder zu wenig Experise bewiesen. Da mag der eine oder die andere sich die Haare raufen und wünschen, man hätte den Auftrag erst gar nicht bekommen oder ihn mit Bartebys Worten ausgeschlagen.2

Herman Melvilles Meistererzählung «Bartleby, the Scrivener» wurde bereits über ein dutzend mal ins Deutsche übersetzt – als «Bartleby», «Der Schreiber Bartleby», «Bartleby, der Schreibgehilfe», «Bartleby der Lohnschreiber», meistens jedoch unter dem Titel «Bartley, der Schreiber».
Auch der erste Satz – «I am a rather elderly man» – zeigt wieder einmal, wie viele Varianten möglich sind. Hier ein paar Kostproben, welchen Ton die bisherigen Übersetzungen anschlagen:

Als Erstes fällt vielleicht auf, dass die Erstübersetzung von Karl Lerbs sowie die jüngste Übertragung durch Karl-Heinz Ott sich für «nicht mehr der Jüngste» entscheiden. Das wäre auch mein Favorit gewesen. Die Formulierung trifft es idiomatisch, obgleich sie etwas frischer als Melvilles «rather elderly» klingt. Der Ich-Erzähler, der eine Anwalts­kanzlei leitet, geht auf die sechzig zu und ist, wie er uns eingangs wissen lässt, seit über dreissig Jahren im Geschäft. Da hat er wohl schon viel gesehen und ist nicht leicht aus der Ruhe zu bringen. Aber – und was wäre das für eine Geschichte, wenn es kein Aber gäbe – trotz beruflicher Routine und reichlich Lebens­erfahrung ist er nicht vor Überraschungen gefeit. Ein neuer Kopist, der allersonderbarste Schreiber, der dem Ich-Erzähler je begegnet ist, betritt die Bühne der Kanzlei. Mit mit seiner widerborstigen Sanftmut versetzt er die geordnete Welt des Notars in Aufruhr – und das, ohne auch nur einen Finger zu rühren.

Daniel Ammann, 1.5.2025

  1. Es gibt noch zwei private Gründe, warum diese Geschichte mir am Herzen liegt: Zum einen arbeite ich seit langem schon mit der Textverarbeitung Scrivener, zum anderen hat die Kanzleiatmosphäre des Melville-Klassikers und sein kauziger Antiheld für eine meiner eigenen Geschichten Pate gestanden und mich kreativ inspiriert. ↩︎
  2. «I would prefer not to.» – Auch dieser formelhafte Satz wird auf unterschiedliche Weise ins Deutsch gebracht: 
    «Ich möchte lieber nicht.» (Karl-Heinz Ott, Jürgen Krug, Karlernst Ziem, Elisabeth Schnack, Karl Lerbs)
    «Es ist mir eigentlich nicht genehm.» (Michael Walter)
    «Ich würde vorziehen, es nicht zu tun.» (Richard Mummendey)
    «Eigentlich möchte ich nicht.» (Marianne Graefe). ↩︎
Bartleby mag einfach nicht

Herman Melville
Bartleby, der Schreiber. Eine Geschichte aus der Wall Street.
Aus dem amerikanischen Englisch und mit einem Essay von Karl-Heinz Ott.
Zürich: Kampa, 2025. 125 Seiten.

Magoria by Daniel Ammann