Den Zitäter*n auf der Spur


Johnson, Alex. Schreibwelten. Mit Illustrationen von James Oses. Aus dem Englischen von Birgit Lamerz-Beckschäfer. Darmstadt: wbg Theiss, 2023. 192 Seiten.

Ich bin ein grosser Fan und obsessiver Sammler von Zitaten. Aber sie treiben mich gelegentlich auch in den Wahnsinn. Vor allem wenn sie als «heimtückische Memes» durchs Internet geistern. 

Ich möchte dem Quote Investigator Garson O’Toole keine (oder nur ein bisschen) Konkurrenz machen. Denn hin und wieder bereitet mir das ungenaue und quellenlose Zitieren schon Kopfzerbrechen. Vielleicht hat mich ja die wissenschaftliche Arbeit verdorben.

Gestern habe ich das wunderschön gestaltete Buch Schreibwelten von Alex Johnson gekauft. Als Erstes schlage ich zufällig Seite 47 auf und treffe auf das Zitat von Agatha Christie.

Im Original lautet es: «The best time to plan a book is while you’re doing the dishes.»
Das kommt mir bekannt vor, denn ich habe es im Dezember 2020 bereits für meinen Essay über Musenküsse und Inspiration beim Schreiben recherchiert (erschienen im Februar 2021).
Wie der Quote Investigator zeigt, gibt es durchaus Hinweise darauf, dass die Krimiautorin in der Badewanne ihre Plots ausgeheckt hat und beim Abwasch auf gute Einfälle kam. Einen direkten Beleg liefert hingegen eine Passage, die ich in Agatha Christies Autobiografie aufgespürt habe und in der sie lustigerweise den Schriftsteller Robert Graves als Quelle nennt:

«Bei den Hausarbeiten konnte ich meinen Geist entlasten. Geschirr spülen, hat Robert Graves einmal [zu mir] gesagt, regt zum schöpferischen Denken an. Ich glaube, das stimmt.»

Christie, Agatha. Die Autobiographie. Aus dem Englischen von Hans Erik Hausner. Hamburg: Atlantik (Hoffmann und Campe Verlag), 2017.

 

Die Zeit im Rückwärtsflug – Mister Write goes to …

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Fiktion kann mit der Zeit umspringen, wie sie will. Zeitverläufe werden beim Erzählen nicht nur gedehnt und gerafft oder durch Rückblenden und Vorgriffe unterbrochen. In F. Scott Fitzgeralds Novelle Der seltsame Fall des Benjamin Button (dt. v. Christa Schuenke; Orig. The Curious Case of Benjamin Button) kommt ein Kind in Gestalt eines siebzigjährigen Greises zur Welt und entwickelt sich über die Jahre körperlich und geistig zurück bis zum Baby.

«Eingewickelt in eine bauschige weisse Decke und halbwegs hineingestopft in eines der Bettchen, hockte dort ein alter Mann von augenscheinlich etwa siebzig Jahren. Er hatte schütteres, nahezu weisses Haar, und von seinem Kinn hing ein langer, rauchgrauer Bart, der in dem durchs Fenster hereinkommenden Luftzug irrwitzig hin und her wehte. Mit einem ratlosen, fragenden Blick in den trüben, verwaschenen Augen schaute er hinauf zu Mr. Button.»

Während sich die Zeit kontinuierlich vorwärts bewegt, läuft sie für Benjamin Button rückwärts. Bis er sich schliesslich  an nichts mehr erinnern kann.

«Dann gab es nur noch Dunkelheit, und sein weisses Bettchen, die verschwommenen Gesichter, die sich über ihn beugten, der warme, süsse Duft von Milch – all das verblasste und schwand endlich ganz und gar aus seiner Erinnerung.»

Einen erzähltechnischen und perspektivischen Schritt weiter geht Martin Amis in seinem Roman Pfeil der Zeit (dt. v. Alfons Winkelmann; Orig. Time’s Arrow). Hier läuft die Zeit mit der Geschichte rückwärts.

«Todd Friendly liegt in einem amerikanischen Krankenhaus im Sterben, doch mit dem Tod beginnt sein Leben rückwärts zu laufen, bis er schließlich in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wieder im Mutterleib verschwindet. Stationen sind eine erfolgreiche Tätigkeit als Mediziner in Amerika, die Flucht nach dem Zweiten Weltkrieg aus Europa sowie – Schlüssel zu seinem Leben – die Zeit als Arzt in einem KZ.»

Für seine erzählerische Kühnheit und die virtuose Gestaltung der Zeitumkehrung gebührt Martin Amis der vierte «HC Award for Special Achievement in Literary Fiction» (benannt nach dem schweizerisch-kanadischen Literaturwissenschaftler Herman Couzens). Auf eindrückliche Weise und mit narrativer Konsequenz erzählt Amis im Time’s Arrow «das Leben eines Nazikriegsverbrechers vom Augenblick seines Todes rückwärts bis zu seiner Geburt […], mit anfangs komisch-grotesker Wirkung und dann zunehmend beunruhigt und beunruhigend, als die Geschichte sich den Schrecken des Holocausts nähert» (wie David Lodge in seiner Kunst des Erzählens festhält; übers. v. Daniel Ammann).

Special Effects in Literary Fiction: «Mister Write» goes to …

Nach längerer Pause ist wieder ein «HC Award for Special Achievement in Literary Fiction» zu vergeben. Diesmal geht die «Mister Write»-Trophäe an Jürg Seiberth für seine klinisch-kühle Superzeitlupe in Kollers Handschuh.

CSI lässt grüssen. 

Zur Autorenlesung geht es hier.

Christian Frascella: Bet empört sich (FVA 2015)
Jürg Seiberth: Kollers Handschuh


Seiberth, Jürg. Kollers Handschuh. Ein Kriminalroman. Winterthur: Vidal, 2012. 241 Seiten. (vergriffen)
Neuausgabe im Taschenbuch:
St. Gallen: Magoria Verlag, 2018. 342 Seiten. (Hier bestellen.)

Magoria by Daniel Ammann