Ein bisschen riskant ist es schon, wenn wir im ersten Satz schon um das Leben der Ich-Erzählerin bangen müssen. Noch ehe wir sie kennenlernen. Dann kippt die Bedrohung am Ende allerdings gleich wieder weg, weil es einer anderen Figur an den Kragen geht. Ob das eine mit dem anderen zu tut hat, kann nur die Lektüre beantworten.
Und wer hätte erwartet, dass wir auf Seite 450 nach einer düsteren Geschichte auf einen so wunderbar hellen Schlusssatz zusteuern? – «Und als ich auf dem Gehweg in Richtung des Parks mit den Stauteichen aufkam, atmete ich das Licht wieder aus, und kurz, ganz kurz, musste ich beinahe fast lachen.» Die letzten vier Worte mit diesem zauberhaft zwinkernden Doppler in der Mitte klingen nach.
I almost nearly laughed.
Daniel Ammann, 22.7.2025
Anna Burns Milchmann. Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll. Stuttgart: Tropen-Verlag, 2020. 452 Seiten.
Erste Sätze haben es in sich. Und sie verraten uns eine ganze Menge. Der Kinderroman der Autorinnen Sloan und Wolitzer zum Beispiel eröffnet mit einer E-Mail und lässt schon durchblicken, dass sich Bett und Avery noch nicht kennen. Aber dabei wird es wohl nicht bleiben, denn es folgen noch viele weitere E-Mails.
Der abrupte und verblüffende Einstieg in eine Geschichte hat auch Eingang in unser Lehrmittel Apropos Medien 5/6 gefunden – und zwar in der Rubrik Flaschenpost (Kap. 6, S. 45). Hat nicht jede E-Mail und jeder Romananfang etwas von einer geheimnisvollen Flaschenpost? Kommunikation beginnt mit dem ersten Satz, manchmal noch ehe man weiss, mit wem man es zu tun hat, woher die Botschaft kommt und worauf man sich einlässt.
Daniel Ammann, 15.7.2025
Holly Sloan und Meg Wolitzer An Nachteule von Sternhai. Aus dem Englischen v. Sophie Zeitz. München: dtv, 2021. 288 Seiten. Ab 11 Jahren.
Ich bin ein grosser Fan und obsessiver Sammler von Zitaten. Aber sie treiben mich gelegentlich auch in den Wahnsinn. Vor allem wenn sie als «heimtückische Memes» durchs Internet geistern und keinen Hinweis darauf liefern, welchem Werk sie entnommen sind. Ganz zu schweigen davon, dass sogar die Angabe der Autor:innen sehr oft irreführend oder schlichtweg falsch ist.
Im wunderschön gestalteten Buch Schreibwelten von Alex Johnson schlage ich zufällig Seite 47 auf und treffe auf das Zitat von Agatha Christie. Im Original lautet es: «The best time to plan a book is while you’re doing the dishes.» Das kommt mir bekannt vor, denn ich habe es im Dezember 2020 bereits für meinen Essay über Musenküsse und Inspiration beim Schreiben recherchiert. Wie der Quote Investigator Garson O’Toole zeigt, gibt es durchaus Hinweise darauf, dass die Krimiautorin in der Badewanne ihre Plots ausgeheckt hat und beim Abwasch auf gute Einfälle kam. Klärung und einen direkten Beleg liefert dann eine Passage, die ich in Agatha Christies Autobiografie aufgespürt habe und in der sie lustigerweise den Schriftsteller Robert Graves als Quelle nennt:
«Bei den Hausarbeiten konnte ich meinen Geist entlasten. Geschirr spülen, hat Robert Graves einmal [zu mir] gesagt, regt zum schöpferischen Denken an. Ich glaube, das stimmt.»
Und sie fährt fort: «Es ist etwas Monotones an den häuslichen Pflichten, und diese Eintönigkeit gibt den körperlichen Fähigkeiten des Menschen genügend Arbeit, während sie die geistigen freisetzt, sodass sie sich aufschwingen können in die Höhen der Phantasie, um neue Gedanken zu fassen und zu formen.»1
Ich möchte dem Quote Investigator keine (oder nur ein bisschen) Konkurrenz machen. Denn hin und wieder bereitet mir das ungenaue und quellenlose Zitieren schon Kopfzerbrechen. Vielleicht hat mich da die wissenschaftliche Arbeit verdorben. Aber etwas nervig ist es schon, wenn ein Bonmot aus einem Shakespeare-Stück oder einem Roman von Jane Austen zitiert wird und als Quelle lediglich der Name des Autors oder der Autorin vermerkt wird. Auch wenn die Werke aus ihrer Feder stammen, sind sie mit ihren Charakteren nicht unbedingt einer Meinung. Wie schon Antonio in Shakespeares The Merchant of Venice bemerkt: «The devil can cite Scripture for his purpose.» – Wenn es sich um die deutsche Übersetzung handelt, sollte man auch erwähnen, wem wir diese verdanken. Bei August Wilhelm Schlegel zum Beispiel heisst es: «Der Teufel kann sich auf die Schrift berufen.»
Bei genauerer Prüfung kann sich unter Umständen sogar herausstellen, dass das Zitat im Werk der genannten Autorin gar nicht vorkommt.
«When I fall in love, it will be forever.» – Das könnte Jane Austen vielleicht in einem Biopic sagen. Als Quelle wird gelegentlich Sense and Sensibility (1811) angeführt. Dort erwähnt Edward Ferrars im Gespräch mit den Dashwoods zwar Mariannes «Lebensmaxime: dass man sich nur einmal im Leben verlieben kann» (2017, 95; in der Übersetzung von Andrea Ott). Im exakten Wortlaut kommt das angebliche Austen-Zitat aber tatsächlich nur in der BBC-Adaption des Romans nach dem Drehbuch von Andrew Davies vor (GB 2008).
Daniel Ammann, 7.5.2023/17.5.2025
Im Original: «During domestic chores I could relax my mind completely. Robert Graves once said to me that washing up was one of the best aids to creative thought. I think he is quite right. There is a monotony about domestic duties – sufficient activity for the physical side, so that it releases your mental side, allowing it to take off into space and make its own thoughts and inventions. That doesn’t apply to cooking, of course. Cooking demands all your creative abilities and complete attention.» (Christie 2011 [1977], 316–317) ↩︎
Quellen
Austen, Jane. Vernunft und Gefühl. Aus dem Englischen von Andrea Ott. Zürich: Manesse, 2017.
Christie, Agatha. Agatha Christie: An Autobiography. London: HarperCollins, 2011 (1977).
Christie, Agatha. Die Autobiographie. Aus dem Englischen von Hans Erik Hausner. Hamburg: Atlantik, 2017.
Johnson, Alex. Schreibwelten. Mit Illustrationen von James Oses. Aus dem Englischen von Birgit Lamerz-Beckschäfer. Darmstadt: wbg Theiss, 2023.
Sense & Sensibility. (Sinn und Sinnlichkeit.) GB 2008. Regie: John Alexander. Buch: Andrew Davies.
Vor ein paar Jahren, vermutlich 2018, spielte ich mit dem Gedanken, Herman Melvilles Meistererzählung «Bartley, the Scrivener» ins Deutsche zu übertragen. Nicht als Erster natürlich, aber es wäre ein gute Übung, um literatur- und sprachwissenschaftlich in Schwung zu bleiben. Man liest ja nie genauer, als wenn man einen Text Satz für Satz in eine andere Sprache transportiert. Bekanntlich geht es dabei nicht nur um die inhaltliche Fuhre semantische Präzision und ein zeitgemässes Register. Man möchte vor allem die passende Atmosphäre schaffen, den Ton zu treffen und dem Stil des Ausgangstextes gerecht werden. Also ein waghalsiges Spiel, bei dem es sprachlich und literarisch zur Sache und dem Übersetzer oder der Übersetzerin an den Kragen geht, sollte das Unterfangen missglücken. 1
Aus ebendiesen Gründen macht es aber auch unendlichen Spass, über linguistische Feinheiten und kalauernde Grobheiten nachzudenken und mit Gleichgesinnten zu diskutieren, wie wir das monatlich am Zürcher Übersetzer:innen-Treffem unter Ulrich Blumenbachs Leitung in der James-Joyce-Stifung praktizieren . Manchmal fördert das Schwarmdenken überraschend eine mehrheitsfähige Lösung zutage, dann wieder verzetteln wir uns gehörig und kommen zu keiner Einigung. Die Übersetzer:innen, die eine Knacknuss mitgebracht haben, gehen mit nützlichen Anregungen nach Hause, auch wenn die seligmachende Variante oft noch nicht gefunden ist. Fast schlimmer: Sie müssen sich für eine von mehreren genialen Lösungen entscheiden – und das Feuilleton urteilt dann selbstgerecht, sie seien zu weit oder doch nicht weit genug gegangen, hätten sich falsch entschieden, zu viel Mut oder zu wenig Experise bewiesen. Da mag der eine oder die andere sich die Haare raufen und wünschen, man hätte den Auftrag erst gar nicht bekommen oder ihn mit Bartebys Worten ausgeschlagen.2
Ich möchte lieber nicht.
Herman Melvilles Meistererzählung «Bartleby, the Scrivener» wurde bereits über ein dutzend mal ins Deutsche übersetzt – als «Bartleby», «Der Schreiber Bartleby», «Bartleby, der Schreibgehilfe», «Bartleby der Lohnschreiber», meistens jedoch unter dem Titel «Bartley, der Schreiber». Auch der erste Satz – «I am a rather elderly man» – zeigt wieder einmal, wie viele Varianten möglich sind. Hier ein paar Kostproben, welchen Ton die bisherigen Übersetzungen anschlagen:
Ich bin nicht mehr der Jüngste. Karl-Heinz Ott (Kampa 2025)
Ich bin nun schon ein älterer Mann. Felix Mayer (Anaconda 2010)
Ich bin schon vorgerückten Alters. Michael Walter u. Daniel Göske (Hanser 2009)
Ich bin ein schon recht bejahrter Mann. Jürgen Krug (Insel 2004)
Ich bin ein schon etwas bejahrter Mann. Elisabeth Schnack (Manesse 2002/Penguin 2022)
Ich bin ein Mann schon vorgerückten Alters. Karlernst Ziem (1966/C.H. Beck 2011)
Ich bin bereits im gesetzteren Alter. Richard Mummendey (1967/1984)
Ich bin, ich muss es gestehn, nicht mehr der Jüngste. (Karl Lerbs, 1939/1946)
Als Erstes fällt vielleicht auf, dass die Erstübersetzung von Karl Lerbs sowie die jüngste Übertragung durch Karl-Heinz Ott sich für «nicht mehr der Jüngste» entscheiden. Das wäre auch mein Favorit gewesen. Die Formulierung trifft es idiomatisch, obgleich sie etwas frischer als Melvilles «rather elderly» klingt. Der Ich-Erzähler, der eine Anwaltskanzlei leitet, geht auf die sechzig zu und ist, wie er uns eingangs wissen lässt, seit über dreissig Jahren im Geschäft. Da hat er wohl schon viel gesehen und ist nicht leicht aus der Ruhe zu bringen. Aber – und was wäre das für eine Geschichte, wenn es kein Aber gäbe – trotz beruflicher Routine und reichlich Lebenserfahrung ist er nicht vor Überraschungen gefeit. Ein neuer Kopist, der allersonderbarste Schreiber, der dem Ich-Erzähler je begegnet ist, betritt die Bühne der Kanzlei. Mit mit seiner widerborstigen Sanftmut versetzt er die geordnete Welt des Notars in Aufruhr – und das, ohne auch nur einen Finger zu rühren.
Daniel Ammann, 1.5.2025
Es gibt noch zwei private Gründe, warum diese Geschichte mir am Herzen liegt: Zum einen arbeite ich seit langem schon mit der Textverarbeitung Scrivener, zum anderen hat die Kanzleiatmosphäre des Melville-Klassikers und sein kauziger Antiheld für eine meiner eigenen Geschichten Pate gestanden und mich kreativ inspiriert. ↩︎
«I would prefer not to.» – Auch dieser formelhafte Satz wird auf unterschiedliche Weise ins Deutsch gebracht: «Ich möchte lieber nicht.» (Karl-Heinz Ott, Jürgen Krug, Karlernst Ziem, Elisabeth Schnack, Karl Lerbs) «Es ist mir eigentlich nicht genehm.» (Michael Walter) «Ich würde vorziehen, es nicht zu tun.» (Richard Mummendey) «Eigentlich möchte ich nicht.» (Marianne Graefe). ↩︎
Herman Melville Bartleby, der Schreiber. Eine Geschichte aus der Wall Street. Aus dem amerikanischen Englisch und mit einem Essay von Karl-Heinz Ott. Zürich: Kampa, 2025. 125 Seiten.
Nach einem auktorialen «Vorsatz», mit dem auch Hans W. Geissendörfers Filmadaption aus dem Jahr 1981 einsteigt, lässt das erste Kapitel mit dem Titel «Ankunft» den Helden des Zauberbergs von Hamburg nach Süden, über den Bodensee und von Rorschach mit der Bahn via Landquart nach Davos reisen. Dort will Hans Castorp – «dies der Name des jungen Mannes» – für drei Wochen seinen lungenkranken Vetter im Sanatorium Berghof besuchen.
Der erste Absatz aus Thomas Manns Roman «Der Zauberberg» (1924)
Die Ironie des zweiten Satzes erschliesst sich den Leser:innen erst im Laufe der tausend Seiten langen Erzählung. Thomas Mann war seinerzeit ebenfalls für drei Wochen auf Besuch nach Davos gefahren und fand hier den Stoff für seinen grossen Zeit-Roman (wovon auch Colm Tóibín in seinem biografischen Roman über Thomas Mann berichtet).
Er machte sich an die Planung seines Romans Der Zauberberg. Der Protagonist würde fünfzehn Jahre jünger als er sein, aus Hamburg stammen und einen wissenschaftlichen Verstand und die Unschuld des Wissenschaftlers besitzen. Nach Davos würde er lediglich reisen, um seinen Vetter zu besuchen, der dort in Behandlung wäre, und wie Thomas würde er bemerken, dass die Zeit ihre Bedeutung verlor, sobald er sich in die Disziplin des Hauses einordnete. Diese neue Lebensweise würde ihn zunächst verwirren, doch schliesslich würde er sich an sie gewöhnen.
Aus: Colm Tóibín, Der Zauberer. Aus dem Englischen von Giovanni Bandini. München: dtv, 2023. (S. 147)
Aber anders als sein Protagonist schaffte Thomas Mann nach drei Wochen den Absprung. Hans Castorp hingegen bleibt sieben Jahre im Sanatorium – bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
Literaturangaben
Thomas Mann Der Zauberberg. In der Textfassung der Grossen kommentierten Frankfurter Ausgabe. Mit Daten zu Leben und Werk. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2012. 1120 Seiten.
Der Zauberberg BRD/Frankreich/Italien 1981. Regie u. Buch: Hans W. Geissendörfer. Mit Christoph Eichhorn (Hans Castorp), Marie-France Pisier (Clawdia Chauchat), Flavio Bucci (Ludovico Settembrini), Hans Christian Blech (Hofrat Behrens), Alexander Radszun (Joachim Ziemßen), Rod Steiger (Mynheer Peeperkorn), Charles Aznavour (Naphta) u.a.
Gabriele Seitz, Hrsg. Der Zauberberg: Ein Film von Hans W. Geissendörfer nach dem Roman von Thomas Mann. Frankfurt/M.: Fischer, 1982. 216 Seiten.
Norman Ohler Der Zauberberg, die ganze Geschichte. Zürich: Diogenes, 2024. 272 Seiten.
Colm Tóibín Der Zauberer. Aus dem Englischen von Giovanni Bandini. München: Hanser, 2021. / München: dtv, 2023. 560 Seiten.
Inspiriert durch Elmore Leonards 10 Rules of Writing, die 2001 in der New York Times und später in Buchform erschienen, erkundigte sich die britische Zeitung The Guadian 2010 bei verschiedenen Autor:innen nach ihren persönlichen «Zehn Geboten des Schreibens». Zadie Smiths goldene Regel Nummer eins richtet sich an die jungen Leser:innen: «When still a child, make sure you read a lot of books. Spend more time doing this than anything else.»