Lesen und Wiederlesen

Wiederlesen lohnt sich
Wiederlesen lohnt sich

«Auf Wiederlesen.»
Akzente 4 (2022): S. 39.
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Soll man irgendwann aufhören, den zahlreichen Neuerscheinungen hinterherzuhetzen, und sich stattdessen auf das Wiederlesen vertrauter Bücher verlegen? So wie man nicht zwei Mal in den gleichen Fluss steigt, verhält es sich auch mit Lektüren.

Davon erzählt die passionierte Wiederholungsleserin und Autorin Vivian Gornick in Offene Fragen (Penguin, 2022). Wenn sie nach Jahren erneut zum gleichen Buch greift, haben sich die Zeichen auf dem Papier nicht verändert. Vielmehr spiegelt sich im alten Text ein neues Ich und lässt die Leserin in der aktuellen Lebensphase eine andere Geschichte entdecken.

Von intimen und erhellenden Begegnungen mit Texten berichten auch die vierundzwanzig Autorinnen und Autoren in Warum Lesen: Mindestens 24 Gründe (Suhrkamp, 2020; herausgegeben von Katharina Raabe und Frank Wegner). Lesen trennt und verbindet, betont etwa Annie Ernaux. Es koppelt uns vom Alltag ab, lässt fremde Stimmen ins Bewusstsein ein. Gleichzeitig rückt uns Literatur der Welt näher, denn sie gewährt Einblicke ins Leben, Denken und Fühlen von anderen und verschafft vielfältige ästhetische und verdichtete Erfahrungen.

Wiederlesen lohnt sich. Das mag einer der Gründe sein, weshalb die befragten Schriftstellerinnen und Schriftsteller in François Armanets Bücher für die einsame Insel (Atlantik, 2017) lauter Titel nennen, die sie bereits kennen. Salman Rushdie entscheidet sich wenig überraschend für «Tausendundeine Nacht». Und für Margaret Atwood ist es an der Zeit, wieder einmal «Moby Dick» zu lesen, weil dieser Roman für sie alle zehn Jahre einen neuen Sinn erhält.
– Daniel Ammann

Literaturangaben

Vivian Gornick
Offene Fragen: Notizen einer passionierten Wiederholungsleserin.
Aus dem amerikanischen Englisch von Pociao.
München: Penguin, 2022. 173 Seiten.

Warum Lesen: Mindestens 24 Gründe.
Herausgegeben und mit einer Nachbemerkung von Katharina Raabe und Frank Wegner. Berlin: Suhrkamp, 2020. 347 Seiten.

François Armanet
Bücher für die einsame Insel.
Aus dem Französischen, Englischen und Spanischen von Claudia Steinitz und Angela Volknant.
Hamburg: Atlantik, 2017. 215 Seiten.

Wenn die Lichter ausgehen

Wenn die Lichter ausgehen

«Wenn die Lichter ausgehen.»
Akzente 3 (2022): S. 39.
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Blackout.
Deutschland 2021. Miniserie, 6 Folgen.
Regie: Lancelot von Naso.

Marc Elsberg
Blackout: Morgen ist es zu spät.
München: Blanvalet, 2021. 896 Seiten.

Don DeLillo
Die Stille.
Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert.
Köln: Kiepenheuer und Witsch Verlag, 2020. 112 Seiten.

Denis Newiak
Blackout – Nichts geht mehr: Wie wir uns mit Filmen und TV-Serien auf einen Stromausfall vorbereiten können.
Marburg: Schüren Verlag, 2022. 252 Seiten.

Psychochirurgie

Psychochirurgie

«Schnitt ins Hirn.»
Akzente 2 (2022): S. 39.
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In ihrer Autobiografie An Angel at My Table – von Jane Campion 1990 bildstark und poetisch verfilmt – beschreibt die neuseeländische Schriftstellerin Janet Frame ihren Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik. Zur Behandlung einer (fehldiagnostizierten) Schizophrenie wird sie mit Elektroschock behandelt und soll sich schliesslich einer Lobotomie unterziehen.

Ein Schnitt ins Hirn, war man 1952 noch überzeugt, würde der Patientin Linderung bringen und fortan ein normales Leben ermöglichen. Ganz sicher war man sich der Sache wohl doch nicht. Wenige Tage vor der Operation teilt der Direktor des Krankenhauses der Autorin mit, dass sie für ihren Erzählband mit einem der renommiertesten Literatur­preise des Landes ausgezeichnet wurde. «Ich habe entschieden, dass bei Ihnen alles so bleibt, wie es ist. Ich will nicht, dass eine Veränderung an Ihnen vorgenommen wird.»

In einem dunklen Kapitel der Psychochirurgie spielt auch Yael Inokais Roman Ein simpler Eingriff (Hanser 2022). Ihre Hauptfigur kümmert sich als Krankenschwester hin­gebungs­voll um die Patientinnen, deren Störungen durch eine neuartige Methode behoben werden. «Der Doktor brauchte lediglich die betroffene Stelle zu finden, dann würde er diese ein­schläfern, wie ein krankes Tier.» Aber lassen sich unerwünschte Persönlichkeitsanteile einfach so abschalten?

Noch unheimlicher mutet Ben Stillers bizarre TV-Serie Severance (2022) an. Hier stimmen die Mitarbeitenden eines futuristischen Konzerns freiwillig einem operativen Eingriff zu, der ihre privaten Erinnerungen komplett von der beruflichen Identität abspaltet.

Daniel Ammann


Janet Frame
Ein Engel an meiner Tafel: Eine Autobiographie.
Aus dem Englischen u. mit einem Nachwort von Lilian Faschinger.
München: C. H. Beck, 2012. 288 Seiten.

An Angel at My Table.
Neuseeland 1990.
Regie: Jane Campion.

Yael Inokai
Ein simpler Eingriff.
Berlin: Hanser, 2022. 192 Seiten

Severance.
TV-Serie. USA 2022.
Regie: Regie: Ben Stiller, Aoife McArdle.

Kreativität – aus Alt mach Neu

Kreativität – aus Alt mach Neu

Wenn ein Novum auf den Plan tritt, hat es oft eine Vorgeschichte. Manchmal sogar eine lange. Aber wie funktioniert Innovation und welche Gesetzmässigkeiten und Strategien geben in schöpferischen Prozessen den Takt an?

Der Neurowissenschaftler David Eagleman und der Komponist Anthony Brandt haben genauer hingeschaut und erzählen in ihrem reich illustrierten Buch eine fesselnde Kulturgeschichte der Kreativität. Sie zeigen, dass technische Errungenschaften, Pionierleistungen der Wissenschaft und künstlerische Triumphe keineswegs aus heiterem Himmel erscheinen. Stets geht das Neue aus dem Alten hervor und folgt drei verlässlichen Prinzipien: Biegen, Brechen und Verbinden. Wir variieren, adaptieren und kombinieren Bisheriges oder stellen es einfach radikal auf den Kopf. Das klingt nach einem simplen Muster, sorgt in Wirklichkeit aber immer wieder für Knalleffekte. Und es wundert einen, dass man selbst nicht drauf gekommen ist.

Daniel Ammann, 24.2.2022 

«Aus Alt mach Neu.»
 Akzente 1 (2022): S. 38.
 blog.phzh.ch/akzente/2022/02/24/aus-alt-mach-neu/
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David Eagleman und Anthony Brandt
Kreativität: Wie unser Denken die Welt immer wieder neu erschafft.
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer.
München: Siedler, 2018. 288 Seiten.

Siehe auch «Haben die Musen ausgedient?»

Der Lesesessel als Schleudersitz

Der Lesesessel als Schleudersitz

«Die zweite Welt hinter den Büchern: Fantasy-Romane öffnen sich ins Bodenlose.»
Neue Zürcher Zeitung 12.5.2022, S. 31.
 nzz.ch/feuilleton/
doi.org/10.5281/zenodo.7858898 (open access)

Bücher bieten harmlose Abenteuer. Kopfüber stürzen sie uns in turbulente Geschichten, aber Leib und Leben geraten nie in Gefahr. Man müsste schon unglücklich vom Stuhl kippen, um sich beim Lesen den Hals zu brechen. Romanfiguren dagegen riskieren Kopf und Kragen.


Anna James: Matilda und das Geheimnis der Buchwandler. Aus dem Englischen von Birgit Salzmann. Mit Illustrationen von Paola Escobar. Pages & Co. Band 1. Hamburg: Edel Kids Books, 2019. 359 Seiten. Ab 10 Jahren.


Anna James: Matilda und das Verschwinden der Buchmagie. Aus dem Englischen von Birgit Salzmann. Pages & Co. Band 2. Hamburg: Edel Kids Books, 2020. 361 Seiten. Ab 10 Jahren.


Anna James: Matilda und das Rätsel der magischen Karte. Aus dem Englischen von Birgit Salzmann. Pages & Co. Band 3. Hamburg: Edel Kids Books, 2021. 389 Seiten. Ab 10 Jahren.


Mechthild Gläser: Die Buchspringer. Bindlach: Loewe, 2015. / Veränderte Neuausgabe. 2020. 381 Seiten. Ab 12 Jahren.


H. G. Parry: Die unglaubliche Flucht des Uriah Heep. Aus dem Amerikanischen von Michael Pfingstl. München: Wilhelm Heyne, 2020. 604 Seiten.

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Mehr zum Thema: linkedin.com/pulse/der-lesesessel-als-schleudersitz-daniel-f-ammann

Magoria by Daniel Ammann