Zitate übers Schreiben #1
Das Antezitat
Texte spielen nicht nur auf Vergangenes an, sie greifen gelegentlich auch vor. Die Kunst ahmt die Wirklichkeit (und andere Kunst) nach, aber – wie schon Oscar Wilde festgestellt hat – das Leben ahmt mitunter die Kunst nach. Das gilt nicht nur für visionär-prophetische Texte oder Science-Fiction. Sprachliche Vorwegnahme und Vorgriffe auf die Zukunft sind an der Tagesordnung. Wir lesen über die Liebe, bevor wir uns verlieben, kennen fremde Länder aus Fotografien und Filmen, bevor wir selbst dort waren.
Geschichten zeigen uns Muster, die wir dann in der Wirklichkeit entdecken, und sie beschreiben Erfahrungen, die uns noch bevorstehen. Jenseits sich selbst erfüllender Prophezeiungen gibt es aber noch etwas, was ich unter dem Begriff «Antezitat» fassen möchte. Eine Textstelle oder eine Szene in einem Film präsentiert uns etwas, das erst später Wirklichkeit wird, das wir rückblickend jedoch als Anspielung oder Zitat deuten.
Im Roman The Hours (1998; dt. Die Stunden) von Michael Cunningham blickt Clarissa, eine der Hauptfiguren, aus dem Fenster eines Blumenladens und glaubt draussen eine berühmte Schauspielerin entdeckt zu haben: Meryl Streep oder Vanessa Redgrave. In der Filmadaption des Romans wird Clarissa von Meryl Streep gespielt. Die beschriebene Szene fehlt im Film ebenso wie ein Teil des vorangehenden Dialogs. Clarissa erzählt der Ladenbesitzerin, dass sie für einen Freund eine Party organisiert, weil dieser mit einem bedeutenden Literaturpreis geehrt wird. Die Blumenverkäuferin fragt, ob es der Pulitzer-Preis sei. Ein weiteres Antezitat, denn Michael Cunningham hat für eben diesen Roman 1999 den Pulitzer erhalten.
Manchmal geht es auch daneben. Dan Brown vergleicht seinen Zeichenforscher Robert Langdon in The Da Vinci Code mit Harrison Ford, aber in der Verfilmung des Romans hat Tom Hanks die Rolle bekommen.
Die Wirklichkeit ahmt die Kunst nach. Aber sie lässt sich nicht darauf behaften.
Gebrochene Gebote #2 – K. Abk. u. Sonderz.
Nach den Alliterationen geht des nun den Abkürzungen an den Kragen.
Zeit und Druckerschwärze, die wir beim Schreiben mit Abkürzungen sparen, können den Text sperrig oder unzugänglich machen. Lesen wird zum Hindernislauf. Also Finger weg von Abkürzungen und Sonderzeichen!
#2 Verf. usw. sollten allg. auf Abk. u. dgl. verzichten & Et-Zeichen o. Ä. meiden.
Auch hier finden sich in der Literatur Zuwiderhandlungen. Das fängt schon im 18. Jh. b. Laurence Sterne und seinem Tristram Shandy an:
«&c. &c.—und dergleichen mehr :—», wie es z.B. i. d. trefflichen Übers. v. Michael Walter heisst.
Und was Arno Schmidt in Zettels Traum mit mit Sonderzeichen und Auslassungen anstellt, ist kaum zu überbieten:
(? –) : »Ganz=winzij’n Moment nur … (: dreh langsam, 1 Mal, den Kopf in die Wunder einer anderen AtmoSfäre … (?) – : nu, ne Sonne von GoldPapier, mit roth’n Bakkn et=caetera ?)) – : verfolg ma das WasserlinsnBlättchin, Franziska=ja ? – (?) – : Ganz=recht; (Ch kuck aufdii Uhr). –«; (und knien; am WegeGrabm, zu Anfang des Schauerfeld’s) : »Ch wollt die StrömungsGeschwindichkeit ma wissn : Wir habm Zeit, individuell zu sein, gelt Fränzi?« « (Und erneut zu W, /
Anm.: Aber warten wir mal ab, was SMS-Texte und Twitter-Romane noch an typografischen Tändeleien für uns bereithalten :))
Schmidt, Arno. Zettel’s Traum. Ein Lesebuch. Herausgegeben von Bernd Rauschenbach. Mit einführenden Texten von Susanne Fischer. Berlin: Suhrkamp, 2020.
Sterne, Laurence. Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman. Neu übers. v. Michael Walter. Zürich: Haffmans, 1983–1991.
Gebrochene Gebote #1 – Alliteration
An Empfehlungen für gute Texte fehlt es nicht. Wie bei Kurt Tucholskys «Ratschlägen für einen schlechten Redner» macht die Sache aber mit Ironie und Widerspruch erst Spass. In seiner Kolumne «On Language» hat William Safire 1979 im New York Times Magazine 36 «Fumblerules of Grammar» aufgestellt und dem Thema später ein ganzes Buch gewidmet. Hier sieben Kostproben seiner «ungeschickten Grammatikregeln» (in der Übersetzung von Oskar Rauch):
«Keine Halbsätze.»
«Seien Sie sparsam mit Ausrufezeichen!!!»
«Lesen Sie sorgfältig Korrektur, um sicherzugehen, dass keine Wörter ausgelassen haben.»
«Hände hoch vor falschen Redewendungen.»
«Variieren Sie bei der Wortwahl, denn Varianten sorgen für Variation.»
«Packen Sie den Stier bei der Hand, die ihn füttert, und vermeiden Sie es, Redewendungen zu mischen.»
«Vermeiden Sie Zitate. Wie sagt schon Ralph Waldo Emerson: ‹Ich hasse Zitate. Sagen Sie mir lieber, was Sie selbst wissen.›»
(Quelle: Usher 2015, 189–191)
In der Juni-Ausgabe 1986 von Writer’s Digest legt Frank L. Visco eine ähnliche Liste vor, die in unterschiedlichen Versionen im Netz kursiert.
In (geplanten) zehn Beirägen will ich mich aus diesem reichen Schatz selbstironischer Regeln bedienen und meine Version jeweils durch ungehorsame Beispiele aus der Literatur ergänzen. Eine Regel für Autorinnen und Autoren lautet ja: Kenne die Regeln und brich sie.
Den Anfang macht der Anreim:
#1 Allen Alliterationen abschwören. Ausnahmslos.
Keine Ahnung, warum der gute alte Stabreim in Ungnade gefallen ist. Ich schätze ihn über alles.
Wirkt der deutsche Titel Drachen, Doppelgänger und Dämonen von Oliver Sacks’ Buch Hallucinations nicht passender und weniger prosaisch als das Original? Oder nehmen wir den rhythmisch-stabreimenden letzten Satz aus F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby: «So we beat on, boats against the current, borne back ceaselessly into the past.» Auch Truman Capote schliesst seinen Tatsachenroman Kaltblütig mit einem kraftvoll alliterativem Schlusssatz: «Dann machte er sich auf den Heimweg, unter den Bäumen hindurch, und liess den weiten Himmel hinter sich, das Wispern des Windes im wogenden Weizen.»
Walter Abish baut in seinem Roman Alphabetical Africa sein erstes Kapitel sogar ausschliesslich aus Wörtern mit A: «Abermals Afrika: Als Albert ankommt, angeregt argumentiert, afrikanische Ausstellungskunst abhandelt, an afrikanischer Angst auseinandersetzt, aber auch, ach, ausgerechnet Ashanti-Architektur angreift …» (Lodge 1998, 157).
Bewusst eingesetzt treten Alliterationen akzentuiert gegen Alltagsgelaber an und vermögen Absätze ausdrucksmächtig aufzuladen.
Postscriptum:
Die Verlockung war zu gross. So habe ich selbst den Versuch unternommen, eine alliterative Geschichte als Tautogramm zu verfassen: «Adeles Aufstieg». Sie umfasst 430 Wörter und beginnt so:
Adele Abderhalden, Adoptivtochter alteingesessener Apotheker aus Affoltern am Albis, arbeitet Anfang Achtzigerjahre aushilfsweise als Aupairmädchen aristokratischer Aargauer. Angenehme Aufgaben. Ausserdem allerhand Annehmlichkeiten: aparte Attikawohnung, Auto auf Abruf, allabendlicher Ausgang. Andererseits auch aufreibend. Arbeitgeber ausgesprochen angetan, aber arrogant. Aufgrund altertümlicher Auffassungen Adeles adrettes Aussehen als Aufforderung ausgelegt – also andauernde Anmache, Anzüglichkeiten aller Art, auch anstössige Anspielungen auf Adeles aufreizenden A…
Abish, Walter. Alphabetical Africa / Alphabetisches Afrika. Amerikanisch und Deutsch. Übersetzt von Jürg Laederach. Schupfart: Engeler Verlag, 2002.
Capote, Truman. Kaltblütig: Wahrheitsgemässer Bericht über einen mehrfachen Mord und seine Folgen. Aus dem Amerikanischen von Thomas Mohr. Hrsg. v. Anuschka Roshani. Zürich: Kein & Aber, 2007.
Lodge, David. Die Kunst des Erzählens. Illustriert anhand von Beispielen aus klassischen und modernen Texten. Aus dem Englischen von Daniel Ammann. Zürich: Haffmans, 1993. / München u. Zürich: Diana (Heyne), 1998.
Sacks, Oliver. Drachen, Doppelgänger und Dämonen: Über Menschen mit Halluzinationen. Aus dem Englischen von Hainer Kober. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2013.
Kurzrezension «Wenn das Gehirn die Wirklichkeit manipuliert.» ph akzente 2 (2013): S. 30.
Usher, Shaun, Hrsg. Lists of Note: Aufzeichnungen, die die Welt bedeuten. München: Heyne, 2015.
Kurzrezension «Bemerkenswerte Listen.» in ph akzente 1 (2016): S. 34.
Erinnerungen an den Lockdown
«Erinnerungen an den Lockdown.»
Akzente 2 (2024): S. 35. blog.phzh.ch/akzente/2024/05/27/erinnerungen-an-den-lockdown
Download
Krisen spalten die Gesellschaft, bringen Menschen gegeneinander auf, rücken sie aber auch näher zusammen. In dem von Margaret Atwood und Douglas Preston herausgegebenen Romanprojekt Vierzehn Tage (dtv, 2024) begegnen sich die Bewohner:innen eines New Yorker Mietshauses im Lockdown jeden Abend auf dem Dach. Man hält Abstand und will nichts miteinander zu tun haben. Dennoch wächst unter den Isolierten eine launische Verbundenheit. So verschieden diese Menschen sind, so gegensätzlich und doch gleichartig sind die Geschichten, die sie sich (bzw. die 36 Autor:innen) reihum erzählen.
Von einer vertrauteren Schicksalsgemeinschaft handelt Am Meer von Elizabeth Strout (Luchterhand, 2024). Die Autorin Lucy wird zu Beginn der Pandemie von ihrem Ex-Mann gedrängt, New York zu verlassen und mit ihm in ein Landhaus in Maine zu ziehen. Aus Wochen werden Monate und vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Verwerfungen geraten auch Freundschaften und Familien unter Druck.
Dem belgischen Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint scheint die Covid-Krise eher entgegenzukommen, wie er gesteht. Die Arbeit an der auobiografischen Erzählung Das Schachbrett (FVA, 2024) hält ihn über Wasser und lässt Erinnerungen an den Vater, die Anfänge der Liebe und des Schreibens mit seiner alten Schachleidenschaft wundersam verschmelzen.
– Daniel Ammann
Literaturangaben
Margaret Atwood und Douglas Preston, Hrsg.
Vierzehn Tage.
Deutsch von Pieke Biermann, Christine Blum, Christiane Burkhardt, Svenja Geithner, Susanne Goga-Klinkenberg, Susanne Höbel, Brigitte Jakobeit, Stephan Kleiner, Claudia Max, Hella Reese u. Mechtild Sandberg-Ciletti.
München: dtv, 2024. 480 Seiten.

Elizabeth Strout
Am Meer.
Deutsch von Sabine Roth.
München: Luchterhand, 2024. 286 Seiten.

Jean-Philippe Toussaint
Das Schachbrett.
Aus dem Französischen von Joachim Unseld.
Frankfurt/M.: Frankfurter Verlagsanstalt, 2024. 256 Seiten.

Mehr über Schach:
Schachgeschichten