Einfach anfangen

Einfach anfangen
Einfach anfangen

«Lies vor!», fordert der König das weisse Kaninchen in Alice im Wunderland auf. «Wo soll ich anfangen?» fragt es zurück. «Fang am Anfang an», antwortet der König, «und lies weiter, bis du zum Ende kommst. Dann hör auf.»

Zahlreiche Autor:innen schwören auf den ersten Satz, behaupten sogar, ohne ihn seien sie ausserstande, überhaupt anzufangen. Das mag zutreffen oder nur Koketterie sein. Auf alle Fälle hebt es die Magie des kreativen Prozesses hervor … und ein bisschen auch das Genie der Schreibenden. Stellt sich der zündende erste Satz allerdings nicht ein, ist die Schreibblockade quasi vorprogrammiert.

In seinem Roman Rauch und Schall (Diogenes 2023) lässt Charles Lewinsky den genialischen Johann Wolfgang von Goethe genau daran auflaufen. Zurück von seiner Schweizer Reise wartet der Meister vergeblich auf die Inspiration, während der von ihm als Lohnschreiber verachtete Schwager Christian August Vulpius Buch um Buch produziert. Weil Goethe einen Ruf zu verlieren hat, nimmt er schliesslich widerwillig die Dienste seines Schwagers in Anspruch, zuerst als Ghostwriter, dann als Schreibcoach.

Die humorvolle Demontage des Genies beginnt bei Lewinsky schon im ersten Satz («Goethe hatte Hämorrhoiden.»), nimmt aber mit der Umkehr der Hierarchie erst richtig Fahrt auf. Lewinsky inszeniert den unterwürfigen Vulpius als handwerklich versierten Autor und stilisiert ihn zum pädagogisch-psychologischen Schreiblehrer. 
Dabei spielt abermals ein erster Satz die zentrale Rolle.  Vulpius entpuppt sich sogar als didaktischer Pionier und Vertreter des Freewriting avant la lettre. Seine Aufgabe an den widerspenstigen Schreibschüler Goethe lautet denn auch, mit einem vorgegebenen ersten Satz zu beginnen und dann ohne Unterbruch einfach weiterzuschreiben. «Nicht an andere Dinge denken. Überhaupt nicht denken. Einfach schreiben.»

Goethe spielt mit, auch wenn er in seiner Selbstgefälligkeit und Arroganz überzeugt ist, alles besser zu wissen, wie seine Reaktion auf den Schreib-Prompt zeigt:

Ganz Italien spricht von ihm.
Kein wirklich guter Anfang. Er musste Vulpius bei Gelegenheit erklären, wie wichtig die ersten Worte für ein Buch waren. Ein Signal für den Leser. So wie man beim Betreten eines Hauses sofort spürte, was für Leute dort lebten. Damals beim Werther – auf diesen Anfang war er heute noch stolz – hatte der erste Satz geheissen: Wie froh bin ich, dass ich weg bin!

Goethe braucht etliche Anläufe, bis es ihm gelingt, seine Einwände und die hohen Ansprüche über Bord zu werfen. Immer wieder schweifen seine Gedanken ab. So ärgert er sich über die Beschaffenheit des Federkiels, die Farbe der Tinte und stösst sogar auf Ideen für neue Vorhaben. 

Man müsste, überlegte Goethe, die Anfänge berühmter Romane sammeln. Vielleicht eine Broschüre daraus machen. Die verschiedenen Arten von ersten Worten miteinander vergleichen.

Sind die üblichen Vermeidungstrategien erst einmal ausgehebelt, kann es endlich losgehen. Die Rinaldini-Kur, wie Goethe sie bei sich nennt, schlägt an und der Meister tröstet sich damit, dass ausser Vulpius niemand dieses Machwerk je zu Gesicht bekäme … «Er war so glücklich wie schon lang nicht mehr. Und seine Hämorrhoiden waren auch kaum mehr zu spüren.» Die Heilung hat er dem ersten Satz zu verdanken, aber mehr noch der Einsicht, dass es weit wichtiger ist, mit dem Schreiben überhaupt erst anzufangen.

Charles Lewinsky
Rauch und Schall.
Zürich: Diogenes, 2023. 304 Seiten.

Entdeckendes Schreiben

«Schreiben als Entdeckungreise: Gedankenexperiment im Textlabor.»
ph akzente 3 (2013): S. 12–13. 
Einen guten Text zu schreiben, kann ganz schön anstrengend sein. Das wissen Ungeübte genauso wie routinierte Autoren. Wenn sich Wörter querstellen oder die Ideen ganz ausbleiben, hilft die simple Methode: einfach mal drauflosschreiben. Nicht selten erweisen sich improvisierte Texte als wahre Fundgruben.
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Magoria by Daniel F. Ammann