Verwirrung durch Überfülle

In Träumen, dem fünften Band seines autobiografischen Grossprojekts, berichtet der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård von seiner Zeit in Bergen und wie er dort nach dem Besuch der Akademie für Schreibkunst immer wieder im Schreiben scheitert, dann anfängt Literaturwissenschaft zu studieren, wieder aufgibt und doch unbeirrt von einer Karriere als Schriftsteller weiterträumt. Das Verfassen von Essays, Literaturkritiken und Seminararbeiten scheint ihm dabei einfacher von der Hand zu gehen:

Beim Verfassen von Hausarbeiten lief alles darauf hinaus, möglichst zu verbergen, was man nicht wusste. Dazu diente eine bestimmte Sprache, eine bestimmte Technik, und ich beherrschte sie. Zwischen den Dingen gab es Abgründe, die diese Sprache verdecken konnte, wenn man erst einmal gelernt hatte, wie es funktionierte.

Aber diese Selbstsicherheit hält nicht an. Als ihm bei einer späteren Hausarbeit nur noch wenige Wochen bis zum Abgabetermin bleiben, hat er erst wenige Seiten verfasst.

Schlimmer war jedoch, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich vorgehen sollte. Der Stoff wuchs und expandierte, aber es fehlte der Zusammenhang, die einzelnen Fäden erstreckten sich in alle Richtungen, und die Gewissheit, dass ich nicht nur den Überblick über sie behalten, sondern sie auch zu einer klaren Linie bündeln musste, versetzte mich in Panik.

Der Schreibforscher Hanspeter Ortner spricht in diesem Zusammenhang von embarras de richesse, also einer «Verwirrung durch Überfülle» (Ortner, Schreiben und Denken). Die kognitive Überlast blockiert den Schreibprozess ebenso wie die sprichwörtliche Angst vor dem leeren Blatt. Aber ihr ist vermutlich leichter beizukommen. Denn wer nichts zu sagen hat und unter einem Mangel an Material leidet, muss sich erst auf die Suche machen: lesen, recherchieren, Hypothesen entwickeln, Ideen generieren. Wer hingegen über zu viel Material verfügt, muss lediglich auswählen und eingrenzen. – Wenn das so einfach wäre!

Auf Zerstreuung fokussiert

Heute kann man sich Programme wie «SelfControl» auf dem Compu­ter installieren, um für eine definierte Zeitspanne nicht gestört zu werden. Der Produktivität steht dann fast nichts mehr im Weg. Gegen die lauten Nachbarn, Musik aus dem Nebenzimmer, Kindergeschrei vor dem Haus, hupende Autos und bellende Hunde setzt man sich einfach noch den teuren Kopfhörer mit «Noise-Cancelling-Technologie» auf. Noch ein letztes Mal kratzen, wo es juckt, Nase und Brille putzen. Auf dem Klo war ich schon, und ein Glas frisches Wasser oder eine Tasse Kaffee steht ebenfalls bereit.

Gleich geht’s los.

Das Schreibprogramm wird im Vollbild-Schreibmodus geöffnet. Die erste Idee wartet schon hinter der Ecke. Sie traut sich erst hervor, wenn ich wirklich ganz und gar bereit bin. Zur heiteren Auflockerung schreibe ich schon mal den Satzanfang «A Saturday afternoon in November was approaching …» (und denke an den Monty-Python-Sketch «Novel Writing»).

Gut. Nun sind alle Hindernisse aus dem Weg geräumt. Oder habe ich noch etwas vergessen? Irgendwie will es doch nicht recht. Da ist noch diese innere Unruhe, für die es keinen Ein/Aus-Schalter gibt. «SelfControl» ist auf zwei Stunden programmiert. Da hilft auch kein Neustart. Ich könnte mich so lange aufs Ohr legen. Oder ein Buch lesen. Nein, ich will und muss jetzt produktiv sein.

Nach einer halben Stunde greife ich mir mein schwarzes Notizbuch, setze mich unten ins lärmige Café … und kann endlich schreiben. Oder besser noch: Ich hebe mir das für später auf, damit ich etwas habe, worauf ich mich freuen kann, wenn ich wieder zu Hause bin. – Vielleicht schreibe ich einen Mediensplitter zum Thema Prokrastination.

Aber es eilt ja nicht … Morgen ist auch noch ein Tag.

Magoria by Daniel Ammann