Literarische Volte

Literarische Volte

Einer der berühmtesten Textanfänge stammt aus der 1912 entstandenen Erzählung «Die Verwandlung» von Franz Kafka. Diesem ersten Satz kann man sich nicht entziehen. Er sprengt die Grenzen der realen Welt und stürzt uns in einen Wirklichkeit gewordenen Albtraum. Als im Rahmen eines internationalen Wettbewerbs 20071 nach dem schönsten ersten Satz gesucht wurde, schaffte es Kafkas Eröffnungssatz in der Kategorie Erwachsenenliteratur auf den 2. Platz. Saša Stanišić hält ihn gar für so brillant, dass die Geschichte keiner weiteren Spezialeffekte bedarf.

Das einzig spannende Ereignis ist doch, wenn der Typ als Käfer aufwacht. Zack. Das dauert genau einen Satz, den ersten. Der ist aber so gut, dass es danach keine Spannung mehr braucht.

Saša Stanišić in Zehn Gebote des Schreibens ( 1132)

Der britische Autor Ian McEwan erweist Kafka in seiner Novelle Die Kakerlake3 (Diogenes 2019) die Ehre. Er dreht den Spiess jedoch um und lässt das titelgebende Ungeziefer im Körper des britischen Premierministers erwachen. Es beginnt also gleich mit einer intertextuellen Volte.

Literarische Volte

Aber darf man einfach so abkupfern, parodieren und travestieren? Selbstverständlich würde T. S. Eliot antworten. Bereits vor hundert Jahren hat der namhafte Lyriker und Kritiker der Dichtung die Lizenz zur Aneignung ausgestellt: «Unreife Dichter imitieren; reife Dichter stehlen.» Während die schlechten Dichter:innen ihre Vorbilder verunstalten, argumentiert Eliot, machen die guten daraus etwas Besseres oder schaffen zumindest etwas anderes. – Literatur hat die Kraft zur Verwandlung.

  1. Der schönste erste Satz. Eine Auswahl der charmantesten und eindrucksvollsten Beiträge zum internationalen Wettbewerb «Der schönste erste Satz». Hrsg. von der Initiative Deutsche Sprache und der Stiftung Lesen. Ismaning: Hueber Verlag, 2007. ↩︎
  2. Zehn Gebote des Schreibens. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2011. – Siehe dazu auch meine Rezension «Regeln für die Ausnahme» in der NZZ vom 18.4.2012. ↩︎
  3. McEwan, Ian. Die Kakerlake. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Mit einem bisher unveröffentlichten Vorwort von Ian McEwan. Zürich: Diogenes, 2019. ↩︎

Wunderjahr 1922

Wunderjahr 1922

«Wunderjahr.»
Akzente 3 (2023): S. 35.
blog.phzh.ch/akzente/2023/08/24/wunderjahr/
Download

1922 gilt als Annus mirabilis der Literatur. Der Ulysses von James Joyce und T. S. Eliots The Waste Land werden in einem Atemzug genannt. Innovativ, experimentell und in ihrer Vielstimmigkeit modern muten diese Titel heute noch an. So auch Mrs. Dalloway. Virginia Woolfs Roman erscheint zwar drei Jahre später, aber seine Entstehung fällt ebenfalls ins Jahr 1922. Dank der frischen Übersetzung von Melanie Walz darf dieses Meisterwerk nun wieder neu entdeckt werden (Manesse, 2022).

In seinem erzählenden Sachbuch 1922 (Luchterhand, 2022) nimmt Norbert Hummelt neben Joyce, Eliot und Woolf auch den damals im Wallis lebenden Dichter Rainer Maria Rilke in den Blick. In einem kalendarischen Kaleidoskop fügt Hummelt biografische Momentaufnahmen zu Mosaiken zusammen und lässt uns hautnah ins Wunderjahr der Worte eintauchen.

Wer hätte geahnt, dass sich 100 Jahre später noch ein Schweizer dazugesellt – kurz nachdem man die Zweihunderternote mit seinem Konterfei aus dem Verkehr gezogen hat. Sturz in die Sonne (Limmat, 2023) des Waadtländer Autors C. F. Ramuz erscheint jetzt erstmals auf Deutsch. Dass Ramuz damit den Klimaroman vorwegnehme, stimmt nur bedingt. Die apokalyptische Geschichte handelt eher von der in atavistische Aggression umschlagenden Apathie der Menschen im Angesicht des Todes. Durch einen Unfall im Gravitationssystem gerät die Erde aus ihrer Umlaufbahn und nimmt Kurs auf die Sonne.
– Daniel Ammann

Literaturangaben

Virginia Woolf
Mrs. Dalloway.
Aus dem Englischen übersetzt von Melanie Walz.
München: Manesse, 2022. 400 Seiten.

Norbert Hummelt
1922.
München: Luchterhand, 2022. 416 Seiten.

C. F. Ramuz
Sturz in die Sonne.
Übersetzt von Steven Wyss.
Zürich: Limmat, 2023. 192 Seiten.

Magoria by Daniel Ammann