Keine heile Welt

Keine heile Welt

«Keine heile Welt.»
Akzente 4 (2022): S. 39.
blog.phzh.ch/akzente/2023/02/24/keine-heile-welt
Download

Als Jugendliche war Mélanie von der Reality-Show «Big Brother» fasziniert, heute hat sie auf Youtube fünf Millionen Abonnent:innen und vermarktet via Instagram ihre Familie. Ihre beiden Kinder leben in einem permanenten Werbespot und kennen keine Privatsphäre. Mit Die Kinder sind Könige (Dumont, 2022) packt Delphine de Vigan ein brisantes Thema an. Was wie ein Krimi mit einem Entführungsfall beginnt, mündet in ein Plädoyer für Kinderrechte.

Auch Dieser Beitrag wurde entfernt (Hanser, 2022) von Hanna Bervoets wirft einen kritischen Blick hinter die Kulissen unserer Mediengesellschaft. Die Ich-Erzählerin Kayleigh arbeitet als Content-Moderatorin und muss in Akkordzeit verstörende Inhalte aus dem Internet löschen. Trotz strengen Richtlinien keine einfache Aufgabe. Wenn sich jemand in einem Kindergarten in die Luft sprengt, muss das Video entfernt werden – und zwar «aufgrund des Verbots terroristischer Propaganda, nicht etwa, weil es sich um Gewalt oder Kindesmisshandlung handelt».

Gut denkbar, dass auch das Video der Protagonistin in Julia von Lucadous Tick Tack (Hanser, 2022) auf Kayleighs Monitor landen würde. Darin kündigt die 15-jährige Mette an, dass sie sich gleich auf die U-Bahn-Gleise legt …

Die drei Romane zeigen, dass Literatur nicht nur Geschichten erzählt, sondern hautnah das Zeitgeschehen und unseren ambivalenten Umgang mit Medien einfängt.
– Daniel Ammann

Literaturangaben

Delphine de Vigan
Die Kinder sind Könige.
Aus dem Französischen von Doris Heinemann.
Köln: Dumont, 2022. 320 Seiten.

Hanna Bervoets
Dieser Beitrag wurde entfernt.
Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten.
Berlin: Hanser, 2022. 112 Seiten.

Julia von Lucadou
Tick Tack.
Berlin: Hanser, 2022. 256 Seiten.

Die Zukunft von gestern

«Die Zukunft von gestern.»
 Akzente 1 (2023): S. 34.
 blog.phzh.ch/akzente/2023/02/24/die-zukunft-von-gestern
Download

1996 ist das Internet noch eine Wüste. Kein Google, kein Wikipedia, ganz zu schweigen von Youtube, Social Media oder Netflix. Als die 16-jährige Emma von ihrem Vater ihren ersten Computer und von Nachbarsfreund Josh einen AOL-Zugang bekommt, gibt es im Netz also noch nicht viel zu sehen. Aber Emma macht eine ungeheure Entdeckung.

Auf einer Website namens Facebook stösst sie auf das Profil ihres älteren Ichs. Das Verrückte daran ist, dass sich die Angaben laufend verändern. Gemeinsam mit Josh, der in 15 Jahren offenbar mit der reichen Highschoolschönheit verheiratet ist, versucht sie dem Rätsel auf den Grund zu gehen. Wie soll man sich verhalten, wenn jeder kleinste Schritt extreme Auswirkungen auf die Zukunft hat und man alles in Echtzeit verfolgen kann? In seinem Jugendroman, der abwechselnd aus Emmas und Joshs Perspektive erzählt, verknüpft das Autorenduo Mediengeschichte mit spekulativen Zukunftsversionen. Das regt zum Nachdenken und Fantasieren an.
– Daniel Ammann

Jay Asher und Carolyn Mackler
Wir beide, irgendwann.
Aus dem Englischen von Knut Krüger.
München: cbj, 2014. 400 Seiten. Ab 12 Jahren.

Life Writing

«Life Writing – Leben als Schreiben?»
Lifelong Learning Blog, 22.11.2022.
blog.phzh.ch/zhe/life-writing-schreiben-als-leben/
 Download

«Wer ist berechtigt, seine Erinnerungen zu schreiben?», fragte Mitte des 19. Jahrhunderts der im Exil lebende Philosoph und Autor Alexander Herzen. Seine Antwort hat nach wie vor Gültigkeit: Jede und jeder. Schliesslich sei niemand verpflichtet, sie zu lesen. Es genüge, «einfach ein Mensch zu sein, der etwas zu erzählen hat».

Alle können ihre Erinnerungen aufschreiben. (Quelle: Adobe Stock)

Zwischen Fakten und Fiktion

Die Wirklichkeit ist ein unförmiger Brei. Auf unsere Wahrnehmung ist kaum Verlass. Auf die Erinnerung schon gar nicht. Also stülpen wir der Realität Geschichten über, die wir irgendwann für die Wirklichkeit halten. Wir verknüpfen Episoden und Fragmente und verwandeln das Chaos mit narrativen Mitteln in ein zusammenhängendes Sinngebilde. Wenn wir die Welt schon nicht begreifen, bietet sich vielleicht die Möglichkeit, im Kleinen zu beginnen und schreibend dem eigenen Leben auf die Spur zu kommen. Hier setzt das Life Writing an.

Life Writing hat viele Facetten. Egodokumente und Selbstzeugnisse gibt es als Tagebucheinträge, Bekenntnisse, Reiseberichte, Briefe oder Memoiren schon lange. In den letzten Jahrzehnten hat das autobiografische Schreiben jedoch mit einer neuen Spielart den Markt erobert. Die Rede ist von Autofiktion, einer Mischung aus Autobiografie und Erfindung. Gegenstand und Erzählanlass dieser Geschichten sind Vorkommnisse und Erinnerungen aus dem Lebensumfeld der Autorin oder des Autors, die im Text selber als Romanfigur und Erzählinstanz vorkommen.

Autofiktion ist eine neue Spielart des autobiografischen Schreibens. (Quelle: Adobe Stock)

Annie Ernaux, die kürzlich mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, gilt als Meisterin dieses schillernden Genres und wird gelegentlich als Begründerin der Autofiktion gehandelt. Bereits die dänische Autorin Tove Ditlevsen (1917–1976) hat in ihrer (wiederentdeckten) Kopenhagen-Trilogie und dem Roman Gesichter die Grenzen zwischen Autobiografie und Fiktion ausgelotet. Max Frischs Erzählung Montauk liefert ebenfalls ein frühes Beispiel: «Ich möchte nichts erfinden», heisst es dort, «ich möchte wissen, was ich wahrnehme und denke, wenn ich nicht an mögliche Leser denke.»

Autofiktion ist im besten Fall mehr als Selfie-Literatur oder eitle Selbstbespiegelung. Die Autor:innen gehen über die faktische Rekonstruktion von Vergangenheit hinaus und betreiben eine Art von «Autoethnografie». Sie arbeiten mit zeitlichen Perspektiven­wechseln und richten den forschenden Blick auf soziale wie kulturelle Kontexte. Schreiben stellt dabei den Versuch dar, Lebensereignisse und persönliche Erfahrungen nicht nur getreu wiederzugeben, sondern in der Rückschau zu analysieren und prägende Muster offenzulegen. In der Form des Romans nutzen die Schreibenden den Spielraum der Fiktion, um kreativ und mit erzählerischer Eindringlichkeit mehr «Wirklichkeit» oder Wahrhaftigkeit zu schaffen.

Geschichte(n) erzählen

Fiktionale Darstellungen bedienen sich raffinierter Tricks, um einen Realitätseffekt zu erzeugen. Mit diesen Verfahren arbeitet auch die Geschichtsschreibung. Der Historiker und Literaturwissenschaftler Hayden White hat in diesem Zusammenhang schon auf die «Fiktion des Faktischen» hingewiesen und nachgewiesen, dass historisches Erzählen immer durch Formen der Plotstrukturierung und der Argumentation gestaltet wird. In gleicher Weise spielen in der Nachrichtenberichterstattung heute Storytelling und Narrative eine bedeutende Rolle.

Das Leben als Roman

Wenn früher das eigene Leben für eine Geschichte Modell stand, sprach man einfach von autobiografischen Bezügen – gelegentlich von einem Schlüsselroman, falls sich das fiktionale Personal trotz Tarnnamen als fadenscheiniger Abklatsch der privaten Realität erwies oder gar mit pikanten Details aus dem Alltag der Autor:innen aufwartete.

Beim Schreiben gehe es darum, so Stephen King, eine Geschichte so unbeschädigt wie möglich aus dem Boden zu heben. (Quelle: Adobe Stock)

Der Protagonist in Ian McEwans aktuellem Roman Lektionen zeigt sich überrascht und enttäuscht, dass er in den biografisch gefärbten Romanen seiner Ex-Frau überhaupt nicht vorkommt. Als er sich Jahrzehnte später in ihrem neusten Buch dann doch endlich als Figur erkennt, ist er wiederum schockiert, dass sie ihn als Tyrannen und gewalttätigen Ehemann dargestellt. Die Verfasserin reagiert auf seinen Vorwurf mit grösstem Erstaunen: «Das ist ein Roman. Keine Autobiografie.» Ob nun als Autobiografie oder Fiktion – authentisches Schreiben nimmt wenig Rücksicht auf Empfindlichkeiten. Es stellt sich alten Verletzungen und spürt «Schmerzkerne» auf. «Der Hintergrund und Antrieb jeden literarischen Schreibens», hat Urs Widmer in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen betont, «ist ein Leid, ein blinder Kern, in dem es sich – vom Schreibenden begrifflich nicht zu fassen – hochkonzentriert und zur Explosion bereit verbirgt.» Ein ähnliches Bild beschwört Erfolgsautor Stephen King in Das Leben und das Schreiben herauf, wenn er von Fundstücken oder Fossilien spricht. Beim Schreiben gehe es darum, eine Geschichte so unbeschädigt wie möglich aus dem Boden zu heben. «Manchmal legt man ein kleines Fossil frei: eine Muschel. Manchmal ist es riesengross, ein Tyrannosaurus Rex mit gigantischen Knochen und grinsendem Schädel.»

Life Writing als Entdeckungsreise

Wenn junge Autor:innen heute vermehrt den unspektakulären Alltag als Rohstoff für ihre Geschichten nutzen, illustriert dies, dass wir alle ein Produkt unserer Lebensumstände sind und beim Erzählen aus dem Persönlichen schöpfen. Das Vertraute wie etwas Fremdes zu betrachten und literarisch zu ergründen, mag auch all jenen Mut machen, die weit davon entfernt sind, ihre Memoiren zu publizieren und Privates in die Öffentlichkeit zu tragen. Denn Life Writing gehört allen. Um herauszufinden, ob der Zeitpunkt passt, fängt man besser früher als später damit an.

Wohin geht die literarische Reise? (Quelle: Adobe Stock)

Man muss nicht Erfinder, Nobelpreisträgerin, Olympiasieger, Künstlerin oder Staatsoberhaupt sein. Dieser einzigartige Prozess der Sinnfindung und Gestaltung steht allen offen. Wer flüchtige Einfälle im Tagebuch festhält, Vergangenes dokumentiert, Erlebnisse und Empfindungen zu einer persönlichen Geschichte formt, schafft einen Raum für Reflexion und Entwicklung. Lifelong Writing bedeutet Lifelong Learning.

Allen sprichwörtlichen Behauptungen zum Trotz: Das Leben erzählt keine Geschichten. Der Mensch – homo narrans – ist das erzählende Wesen. «Wir alle sind Fiktion», so Doris Dörrie in Leben, schreiben, atmen: Eine Einladung zum Schreiben, «aber das glauben wir nicht, weil wir uns mitten in ihr befinden wie in einem Fortsetzungsroman.»

Quellen
Sasha Abramsky
Das Haus der zwanzigtausend Bücher.
Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Mit einem Nachwort von Philipp Blom.
München: dtv, 2017. 408 Seiten.

Tove Ditlevsen
Kindheit.
Aus dem Dänischen und mit einem Nachwort von Ursel Allenstein.
Berlin: Aufbau Verlag, 2021. 118 Seiten.

Doris Dörrie
Leben, schreiben, atmen: Eine Einladung zum Schreiben.
Zürich: Diogenes, 2019. 277 Seiten.

Max Frisch
Montauk: Eine Erzählung.
Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1981. 207 Seiten.

Stephen King
Das Leben und das Schreiben.
Aus dem Amerikanischen von Andrea Fischer.
München: Wilhelm Heyne, 2011. 384 Seiten.

Ian McEwan
Lektionen.
Aus dem Englischen von Bernhard Robben.
Zürich: Diogenes, 2022. 714 Seiten. 

Hayden White
Auch Klio dichtet oder Die Fiktikon des Faktischen: Studien zur Tropologie des historischen Diskurses.
Aus dem Amerikanischen von Brigitte Brinkmann-Siepmann und Thomas Siepmann.
Stuttgart: Klett-Cotta, 1986. 335 Seiten. 



Lesen und Wiederlesen

Wiederlesen lohnt sich
Wiederlesen lohnt sich

«Auf Wiederlesen.»
Akzente 4 (2022): S. 39.
blog.phzh.ch/akzente/2022/11/25/auf-wiederlesen/
Download

Soll man irgendwann aufhören, den zahlreichen Neuerscheinungen hinterherzuhetzen, und sich stattdessen auf das Wiederlesen vertrauter Bücher verlegen? So wie man nicht zwei Mal in den gleichen Fluss steigt, verhält es sich auch mit Lektüren.

Davon erzählt die passionierte Wiederholungsleserin und Autorin Vivian Gornick in Offene Fragen (Penguin, 2022). Wenn sie nach Jahren erneut zum gleichen Buch greift, haben sich die Zeichen auf dem Papier nicht verändert. Vielmehr spiegelt sich im alten Text ein neues Ich und lässt die Leserin in der aktuellen Lebensphase eine andere Geschichte entdecken.

Von intimen und erhellenden Begegnungen mit Texten berichten auch die vierundzwanzig Autorinnen und Autoren in Warum Lesen: Mindestens 24 Gründe (Suhrkamp, 2020; herausgegeben von Katharina Raabe und Frank Wegner). Lesen trennt und verbindet, betont etwa Annie Ernaux. Es koppelt uns vom Alltag ab, lässt fremde Stimmen ins Bewusstsein ein. Gleichzeitig rückt uns Literatur der Welt näher, denn sie gewährt Einblicke ins Leben, Denken und Fühlen von anderen und verschafft vielfältige ästhetische und verdichtete Erfahrungen.

Wiederlesen lohnt sich. Das mag einer der Gründe sein, weshalb die befragten Schriftstellerinnen und Schriftsteller in François Armanets Bücher für die einsame Insel (Atlantik, 2017) lauter Titel nennen, die sie bereits kennen. Salman Rushdie entscheidet sich wenig überraschend für «Tausendundeine Nacht». Und für Margaret Atwood ist es an der Zeit, wieder einmal «Moby Dick» zu lesen, weil dieser Roman für sie alle zehn Jahre einen neuen Sinn erhält.
– Daniel Ammann

Literaturangaben

Vivian Gornick
Offene Fragen: Notizen einer passionierten Wiederholungsleserin.
Aus dem amerikanischen Englisch von Pociao.
München: Penguin, 2022. 173 Seiten.

Warum Lesen: Mindestens 24 Gründe.
Herausgegeben und mit einer Nachbemerkung von Katharina Raabe und Frank Wegner. Berlin: Suhrkamp, 2020. 347 Seiten.

François Armanet
Bücher für die einsame Insel.
Aus dem Französischen, Englischen und Spanischen von Claudia Steinitz und Angela Volknant.
Hamburg: Atlantik, 2017. 215 Seiten.

Wenn die Lichter ausgehen

«Wenn die Lichter ausgehen.»
Akzente 3 (2022): S. 39.
 blog.phzh.ch/akzente/2022/08/25/wenn-die-lichterausgehen/
Download

Blackout.
Deutschland 2021. Miniserie, 6 Folgen.
Regie: Lancelot von Naso.

Marc Elsberg
Blackout: Morgen ist es zu spät.
München: Blanvalet, 2021. 896 Seiten.

Don DeLillo
Die Stille.
Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert.
Köln: Kiepenheuer und Witsch Verlag, 2020. 112 Seiten.

Denis Newiak
Blackout – Nichts geht mehr: Wie wir uns mit Filmen und TV-Serien auf einen Stromausfall vorbereiten können.
Marburg: Schüren Verlag, 2022. 252 Seiten.

Magoria by Daniel F. Ammann