Nach dem Beitrag zum E-Mail- und Briefroman von Holly Sloan und Meg Wolitzer knüpfe ich in Episode 6 meiner Zwillingsanfänge thematisch an: E. M. Forster lässt Helen einen Brief an ihre Schwester schreiben. Zadie Smith steigt fast hundert Jahre später mit Jeromes E-Mail an seinen Vater ein. Im Original springt die textliche Anlehnung sofort ins Auge. Bei den Übersetzungen will das nicht so ganz klappen.
Sollte es von Howard’s End nach 40 Jahren eine Neuübersetzung geben, würde ich deshalb empfehlen, sich an Zadie Smith zu orientieren:
«Ebenso gut könnte man mit Helens Briefen an ihre Schwester beginnen.»
Schön und schlank. Und so schliessen sich die intertextuellen Kreise wieder.
Für mich ist 2025 ein grosses Jane-Austen-Jahr, denn am 16. Dezember steht der 250. Geburtstag dieser einzigartigen Autorin an. Deshalb werden hier in den kommenden Monaten immer mal wieder Beiträge zu Jane Austen erscheinen. Den Auftakt mache ich mit Episode 4 in der Rubrik meiner ‹Zwillingsanfänge›.
Der erste Satz aus Stolz und Vorurteil ist weltberühmt. In ihrer Hommage spielt Janice Hadlow in Miss Bennet (Orig. The Other Bennet Sister, 2020) selbstverständlich darauf an. Ihr Roman erzählt die Geschichte von Mary, der mittleren der fünf Bennet-Töchter, die als letzte noch unverheiratet ist. Ihre Chancen sind nicht die besten, wie uns Janice Hadlow im nächsten Satz verrät: «Arm und hübsch zu sein ist schon schlimm genug; aber bettelarm und unansehnlich zweifellos ein hartes Schicksal.»
Jane-Austen-Mashups: Von Zombies und Vampiren
Bleiben wir noch einen Augenblick bei den Bennet-Schwestern aus Jane Austens Stolz und Vorurteil. Ich knüpfe mit einem weiteren Zwillingsanfang an. Bei der Vorbereitung für meinen Schreibkurs zum Thema Imitation habe ich mich nicht nur mit Fortsetzungen, Variationen und Adaptionen, sondern auch mit Mashups beschäftigt. Bei dieser populärkulturellen Spielart werden Werke des literarischen Kanons hemmungslos mit genreuntypischen Elementen, Versatzstücken und intertextuellen Anspielungen verquirlt.
Seth Grahame-Smiths Stolz und Vorurteil und Zombies gilt als prototypisches Beispiel und wurde mit Lily James (Elizabeth Bennet) und Sam Riley (Mr. Darcy) bildgewaltig für die Leinwand adaptiert. Die in asiatischen Kampfsportarten und im Umgang mit Feuerwaffen geschulten Bennet-Schwestern wissen sich gegen untote Angreifer:innen bestens zur Wehr zu setzen. Derweil sorgt sich die Mutter, ob solches Gebaren nicht auch die Freier in die Flucht schlägt.
Michael Thomas Ford geht noch einen Schritt weiter und verwebt die Biografie der berühmten Schriftstellerin mit einem anderen Horrorgenre. In Jane beisst zurück (aus dem Englischen von Oliver Plaschka; Heyne, 2010) hat die Autorin ihren Tod 1817 lediglich vorgetäuscht. Unerkannt lebt sie als Vampirin in den USA und betreibt in einem Universitätsstädtchen einen kleinen Buchladen.
Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass Jane Austen noch lebt …
In Episode 3 meiner Rubrik «Zwillingsanfänge» kommt noch einmal Ian McEwan zum Zug. Seine Protagonistin Fiona Maye – in der Filmadaption nach McEwans Drehbuch von Emma Thompson verkörpert – ist eine angesehene Richterin am High Court in London. In einem dringenden Fall soll sie über das Schicksal eines 17-Jährigen entscheiden, der an Leukämie leidet, dessen Familie jedoch aus religiösen Gründen eine Bluttransfusion ablehnt.
McEwans Romananfang lehnt sich an den Beginn des grossen Dickens-Romans «Bleak House» an. Auch hier geht es um Gerichtsbarkeit. Undurchdringlich dicht wie der Londoner Nebel zu Beginn des Romans ist der sich jahrelang hinziehende Erbschaftsprozess im Fall Jarndyce gegen Jarndyce.
Einer der berühmtesten Textanfänge stammt aus der 1912 entstandenen Erzählung «Die Verwandlung» von Franz Kafka. Diesem ersten Satz kann man sich nicht entziehen. Er sprengt die Grenzen der realen Welt und stürzt uns in einen Wirklichkeit gewordenen Albtraum. Als im Rahmen eines internationalen Wettbewerbs 20071 nach dem schönsten ersten Satz gesucht wurde, schaffte es Kafkas Eröffnungssatz in der Kategorie Erwachsenenliteratur auf den 2. Platz. Saša Stanišić hält ihn gar für so brillant, dass die Geschichte keiner weiteren Spezialeffekte bedarf.
Das einzig spannende Ereignis ist doch, wenn der Typ als Käfer aufwacht. Zack. Das dauert genau einen Satz, den ersten. Der ist aber so gut, dass es danach keine Spannung mehr braucht.
Saša Stanišić in Zehn Gebote des Schreibens( 1132)
Der britische Autor Ian McEwan erweist Kafka in seiner Novelle Die Kakerlake3 (Diogenes 2019) die Ehre. Er dreht den Spiess jedoch um und lässt das titelgebende Ungeziefer im Körper des britischen Premierministers erwachen. Es beginnt also gleich mit einer intertextuellen Volte.
Aber darf man einfach so abkupfern, parodieren und travestieren? Selbstverständlich würde T. S. Eliot antworten. Bereits vor hundert Jahren hat der namhafte Lyriker und Kritiker der Dichtung die Lizenz zur Aneignung ausgestellt: «Unreife Dichter imitieren; reife Dichter stehlen.» Während die schlechten Dichter:innen ihre Vorbilder verunstalten, argumentiert Eliot, machen die guten daraus etwas Besseres oder schaffen zumindest etwas anderes. – Literatur hat die Kraft zur Verwandlung.
11.12.2024
Der schönste erste Satz. Eine Auswahl der charmantesten und eindrucksvollsten Beiträge zum internationalen Wettbewerb «Der schönste erste Satz». Hrsg. von der Initiative Deutsche Sprache und der Stiftung Lesen. Ismaning: Hueber Verlag, 2007. ↩︎
Zehn Gebote des Schreibens. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2011. – Siehe dazu auch meine Rezension «Regeln für die Ausnahme» in der NZZ vom 18.4.2012. ↩︎
McEwan, Ian. Die Kakerlake. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Mit einem bisher unveröffentlichten Vorwort von Ian McEwan. Zürich: Diogenes, 2019. ↩︎
Spätestens seit Umberto Eco wissen wir, dass Bücher miteinander sprechen, auch wenn sie zur Übermittlung menschlicher Leserinnen und Leser bedürfen. Wie sagt William von Baskerville in Der Name der Rose so schön? «Mir scheint, als ob ich einige dieser Worte schon irgendwo gelesen hätte, sie erinnern mich an ähnliche, die ich früher gehört habe.»
In seinem Buch Die Geschichten in uns (Diogenes 2024) verrät uns Bendedict Wells in einem Unterkapitel mit der Überschrift «Steal your darlings» in einer Fussnote, dass es sich beim ersten Satz seines Romans Hard Land (Diogenes 2021) um «eine Variation des ersten Satzes aus der Novelle Salzwasser (Orig. Salt Water, 1998) von Charles Simmons handelt. Ohne Vorbilder und kreative Imitation könnten Autorinnen und Autoren wohl kaum einen unverwechselbaren Stil entwickeln oder ihre eigene Stimme finden. Nur durch Nachahmung kann sich Literatur zu neuen Höhen aufschwingen.
David Lodge hat es schon richtig gesagt: Man kann keinen Roman schreiben, wenn man nicht mindestens einen – besser noch ganz viele – gelesen hat:
How does one become a writer? One thing is certain: nobody ever wrote a book without having read at least one – and more probably hundreds – of approximately the same kind. Most writers [...] begin by imitating and emulating the literature that gives them the biggest kicks. [...] And it is from reading that you acquire basic knowledge of the structural and rhetorical devices that belong to a particular genre or form of writing. To a large extent this learning process is intuitive and unconscious, like learning the mother tongue.
David Lodge, The Practice of Writing (1996, 171)
Nicht nur die KI, auch wir «trainieren» uns an Texten (gleichwohl auf ganz andere Weise). Und die Leser:innen und Kritiker:innen (oder die Gerichte) müssen dann entscheiden, ob die entstehenden Texte bloss mehr vom Gleichen sind oder doch etwas Neues in die Welt bringen. Nicht nur die Wissenschaftler:innen, auch Künstlerinnen und Künstler stehen auf den Schultern von Riesen.