In Episode 3 meiner Rubrik «Zwillingsanfänge» kommt noch einmal Ian McEwan zum Zug. Seine Protagonistin Fiona Maye – in der Filmadaption nach McEwans Drehbuch von Emma Thompson verkörpert – ist eine angesehene Richterin am High Court in London. In einem dringenden Fall soll sie über das Schicksal eines 17-Jährigen entscheiden, der an Leukämie leidet, dessen Familie jedoch aus religiösen Gründen eine Bluttransfusion ablehnt.
McEwans Romananfang lehnt sich an den Beginn des grossen Dickens-Romans «Bleak House» an. Auch hier geht es um Gerichtsbarkeit. Undurchdringlich dicht wie der Londoner Nebel zu Beginn des Romans ist der sich jahrelang hinziehende Erbschaftsprozess im Fall Jarndyce gegen Jarndyce.
Einer der berühmtesten Textanfänge stammt aus der 1912 entstandenen Erzählung «Die Verwandlung» von Franz Kafka. Diesem ersten Satz kann man sich nicht entziehen. Er sprengt die Grenzen der realen Welt und stürzt uns in einen Wirklichkeit gewordenen Albtraum. Als im Rahmen eines internationalen Wettbewerbs 20071 nach dem schönsten ersten Satz gesucht wurde, schaffte es Kafkas Eröffnungssatz in der Kategorie Erwachsenenliteratur auf den 2. Platz. Saša Stanišić hält ihn gar für so brillant, dass die Geschichte keiner weiteren Spezialeffekte bedarf.
Das einzig spannende Ereignis ist doch, wenn der Typ als Käfer aufwacht. Zack. Das dauert genau einen Satz, den ersten. Der ist aber so gut, dass es danach keine Spannung mehr braucht.
Saša Stanišić in Zehn Gebote des Schreibens( 1132)
Der britische Autor Ian McEwan erweist Kafka in seiner Novelle Die Kakerlake3 (Diogenes 2019) die Ehre. Er dreht den Spiess jedoch um und lässt das titelgebende Ungeziefer im Körper des britischen Premierministers erwachen. Es beginnt also gleich mit einer intertextuellen Volte.
Aber darf man einfach so abkupfern, parodieren und travestieren? Selbstverständlich würde T. S. Eliot antworten. Bereits vor hundert Jahren hat der namhafte Lyriker und Kritiker der Dichtung die Lizenz zur Aneignung ausgestellt: «Unreife Dichter imitieren; reife Dichter stehlen.» Während die schlechten Dichter:innen ihre Vorbilder verunstalten, argumentiert Eliot, machen die guten daraus etwas Besseres oder schaffen zumindest etwas anderes. – Literatur hat die Kraft zur Verwandlung.
11.12.2024
Der schönste erste Satz. Eine Auswahl der charmantesten und eindrucksvollsten Beiträge zum internationalen Wettbewerb «Der schönste erste Satz». Hrsg. von der Initiative Deutsche Sprache und der Stiftung Lesen. Ismaning: Hueber Verlag, 2007. ↩︎
Zehn Gebote des Schreibens. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2011. – Siehe dazu auch meine Rezension «Regeln für die Ausnahme» in der NZZ vom 18.4.2012. ↩︎
McEwan, Ian. Die Kakerlake. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Mit einem bisher unveröffentlichten Vorwort von Ian McEwan. Zürich: Diogenes, 2019. ↩︎
Spätestens seit Umberto Eco wissen wir, dass Bücher miteinander sprechen, auch wenn sie zur Übermittlung menschlicher Leserinnen und Leser bedürfen. Wie sagt William von Baskerville in Der Name der Rose so schön? «Mir scheint, als ob ich einige dieser Worte schon irgendwo gelesen hätte, sie erinnern mich an ähnliche, die ich früher gehört habe.»
In seinem Buch Die Geschichten in uns (Diogenes 2024) verrät uns Bendedict Wells in einem Unterkapitel mit der Überschrift «Steal your darlings» in einer Fussnote, dass es sich beim ersten Satz seines Romans Hard Land (Diogenes 2021) um «eine Variation des ersten Satzes aus der Novelle Salzwasser (Orig. Salt Water, 1998) von Charles Simmons handelt. Ohne Vorbilder und kreative Imitation könnten Autorinnen und Autoren wohl kaum einen unverwechselbaren Stil entwickeln oder ihre eigene Stimme finden. Nur durch Nachahmung kann sich Literatur zu neuen Höhen aufschwingen.
David Lodge hat es schon richtig gesagt: Man kann keinen Roman schreiben, wenn man nicht mindestens einen – besser noch ganz viele – gelesen hat:
How does one become a writer? One thing is certain: nobody ever wrote a book without having read at least one – and more probably hundreds – of approximately the same kind. Most writers [...] begin by imitating and emulating the literature that gives them the biggest kicks. [...] And it is from reading that you acquire basic knowledge of the structural and rhetorical devices that belong to a particular genre or form of writing. To a large extent this learning process is intuitive and unconscious, like learning the mother tongue.
David Lodge, The Practice of Writing (1996, 171)
Nicht nur die KI, auch wir «trainieren» uns an Texten (gleichwohl auf ganz andere Weise). Und die Leser:innen und Kritiker:innen (oder die Gerichte) müssen dann entscheiden, ob die entstehenden Texte bloss mehr vom Gleichen sind oder doch etwas Neues in die Welt bringen. Nicht nur die Wissenschaftler:innen, auch Künstlerinnen und Künstler stehen auf den Schultern von Riesen.