Mit den beiden früheren Biopics Becoming Jane (Julian Jarrold, 2007, mit Anne Hathaway) und «Miss Austen Regrets» (Jeremy Lovering, 2008, mit Olivia Williams) habe ich mich vor einiger Zeit schon intensiv beschäftigt und untersucht, wie die grosse Autorin in diesen Filmen schreibt und welche ihrer Texte dabei entstehen. Die neue BBC-Miniserie (Aisling Walsh, 2025, mit Patsy Ferran) setzt 13 Jahre nach Jane Austens Tod ein und bringt sie uns in Rückblenden näher.
Als Jane Austen: Anne Hathaway, Olivia Williams, Patsy Ferran
Im Zentrum der Geschichte stehen nicht Jane Austens Romane, sondern einschneidende Lebensereignisse und wie diese sich in unzähligen Briefen und in den Erinnerungen ihrer Schwester Cassandra spiegeln.
Der BBC-Vierteiler basiert auf dem gleichnamigen Roman von Gill Hornby und spürt den Motiven nach, weshalb Cassandra die meisten Briefe ihrer berühmten Schwester vernichtet hat.
«Natürlich ist es die Stimme des Erzählers, die einen lockt und verführt und deren Klang zugleich schon die Belohnung ist», schreibt Claudius Seidl im Nachwort zur aktuellen Neuübersetzung von F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby. Bereits Baz Luhrmann hat in seiner Filmadaption von 2013 auf diese Stimme gesetzt.
Der Film beginnt im Voice-over mit dem Anfang des Romans und führt Nick Carraway (Tobey Maguire) als traumatisierten Erzähler und Schriftsteller ein. Am Ende liegt seine Geschichte mit dem Titel «Gatsby» als fertiges Typoskript auf dem Tisch. Einer letzten Eingebung folgend fügt er auf dem Titelblatt von Hand zwei weitere Worte hinzu und macht daraus «The Great Gatsby».1
Der erste Satz und Absatz des Romans ist natürlich nur der halbe Anfang, denn man möchte schon erfahren, worin der väterliche Rat besteht … und ob Nick diesen später tatsächlich beherzigt.
«Wenn du meinst, jemanden kritisieren zu müssen», sagte er, «so denk daran, dass nicht alle Menschen auf der Welt dieselben Vorteile hatten wie du.»
Die deutsche Synchronfassung, die sich im Übrigen an Bettina Abarbanells Übersetzung von 2006 orientiert, formuliert hier viel expliziter als die Romanvorlage und rückt damit den inneren Konflikt, wenn nicht gar das Scheitern der Erzählfigur in den Vordergrund: «Versuche stets das Beste in den Menschen zu sehen», zitiert Nick seinen Vater. «Folglich neigte ich dazu, mich mit allem Urteil zurückzuhalten. Doch selbst ich habe meine Grenzen.»
Da Nick Carraway von seinen «jüngeren und empfindsameren Jahren» spricht, dürfen wir davon ausgehen, dass er wie viele autobiografisch anmutende Erzählungen à la David Copperfield oder Der Name der Rose aus zeitlicher Distanz, um Erfahrungen reicher, vielleicht sogar geläutert auf seine Erfahrungen zurückschaut. Der Einstieg hat etwas Bekenntnishaftes und lässt vermuten, dass wir es mit einer moralischen Geschichte zu tun bekommen.
Erste Sätze – letzte Sätze
Berühmter als der Anfang des Grossen Gatsby ist hingegen der letzte Satz, der wie ein Schlussakkord nachhallt. Er ziert sogar die Grabplatte auf dem Friedhof von Rockville, Maryland, wo Francis Scott Key Fitzgerald und dessen Frau Zelda Sayre ihre letzte Ruhe gefunden haben.
The grave of F. Scott Fitzgeraldd and Zelda Fitzgerald, St. Mary’s Catholic Cemetery in Rockville, Maryland.
So we beat on, boats against the current, borne back ceaselessly into the past.
Auch Baz Luhrmann weiss die poetische Kraft dieser letzten Worte zu nutzen und blendet die Textzeilen am Schluss im Bild mit dem symbolischen grünen Licht ein:
Zu den breits vorliegenden deutschen Übersetzungen ist nun mit der Jubiläumsausgabe bei Manesse eine weitere hinzugekommen. Wie Thomas Hermann 2013 in einem früheren NZZ-Artikel über Fitzgerald und Hemingway empfiehlt, lohnt es sich, angesichts der Übersetzungsvielfalt den letzten Satz in seinen deutschen Varianten zu vergleichen.
So mühen wir uns weiter wie Boote gegen die Strömung, unaufhörlich zurückgetrieben, der Vergangenheit zu. (Bernhard Robben, Manesse 2025)
So kämpfen wir uns voran, Boote gegen die Strömung, unablässig zurückgetragen, der Vergangenheit zu. (Hans-Christian Oeser, Reclam 2012)
So stemmen wir uns voran, in Booten gegen den Strom, und werden doch immer wieder zurückgeworfen ins Vergangene. (Reinhard Kaiser, Insel Verlag 2012)
So kämpfen wir uns voran wie Schiffe gegen die Strömung, unaufhörlich zurück ins Vergangene getrieben. (Lutz-Werner Wolff, dtv 2011) So legen wir uns in die Riemen, rudern gegen den Strom, und fortwährend zieht es uns zurück in die Vergangenheit. (Kai Kilian, Anaconda 2011)
So kämpfen wir weiter, wie Boote gegen den Strom, und unablässig treibt es uns zurück in die Vergangenheit. (Bettina Abarbanell, Diogenes 2006)
So regen wir die Ruder, stemmen uns gegen den Strom – und treiben doch stetig zurück, dem Vergangenen zu. (Walter Schürenberg, Blanvalet 1953, Diogenes 1974)
So legen wir uns in die Riemen, Boote gegen den Strom, und treiben doch stetig zurück, der Vergangenheit zu. (Maria Lazar [1928], bearb. v. Heiko Arntz2, Kampa 2025)
In der ZDF-Sendung «Das Literarische Quartett» vom 21.3.2025 betont Eva Menasse, dass Bernhard Robben auch den fast unübersetzbaren letzten Satz elegant übertragen habe. Dem schliesse ich mich gern an, möchte aber wie Thomas Hermann nicht versäumen, Walter Schürenbergs frühen Versuch zu würdigen, Fitzgeralds eingängige Alliteration ins Deutsche zu tragen.
Daniel Ammann, 23.3.2025, aktualisiert 8.4.2025
F. Scott Fitzgerald Der grosse Gatsby. Kommentierte Jubiläumsausgabe mit Korrespondenzen, Rezensionen und einer 100-Jahre-Gatsby-Zeittafel. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Bernhard Robben. Herausgegeben und kommentiert von Horst Lauinger. Mit einem Nachwort von Claudius Seidl. München: Manesse, 2025. 352 Seiten.
F. Scott Fitzgerald Der grosse Gatsby. Aus dem amerikanischen Englisch von Maria Lazar. Bearbeitet und mit Anmerkungen versehen von Heiko Arntz. Mit dem Vorwort des Autors zur Neuausgabe des Romans von 1934 [in der Übersetzung von Hans-Christian Oeser und einem Nachwort von Daniel Kampa. Zürich: Kampa, 2025. 293 Seiten.
F. Scott Fitzgerald hält in einem Brief vom 24. Januar 1925 an seinen Lektor Max Perkins im PS fest: «Alles okay, nur sagt mir mein Herz, ich hätte das Buch Trimalchio nennen sollen. Gegen den allgemeinen Rat wäre das allerdings wohl bloss dumm und trotzig von mir gewesen. Trimalchio in West-Egg war nur ein Kompromiss. Gatsby klingt so nach Babbitt, und Der grosse Gatsby ist ein schwacher Titel, weil er die Grösse – oder deren Fehlen – nicht akzentuiert, nicht einmal ironisch. Aber wie auch immer, belassen wir es dabei» (Fitzgerald 2025, 211). ↩︎
The Man Who Invented Christmas lautet der Titel eines vergnüglich-skurrilen Biopics über Charles Dickens und die Entstehung seiner weihnächtlichen Gespenstergeschichte «A Christmas Carol» (1843) – auf Deutsch unter anderem bekannt als «Eine Weihnachtsgeschichte», «Ein Weihnachtslied in Prosa», «Der Weihnachtsabend» oder «Ein Weihnachtsmärchen».
What’s in a name?
Auch wenn Anfänge wichtig sind und so manche Erzählung ihre Existenz einem genialen ersten Satz verdankt – Bharat Nalluris Spielfilm aus dem Jahr 2017 erzählt eine andere Geschichte. Nach mehreren Fehlschlägen und finanziell in Bedrängnis braucht der unnachahmliche Charles Dickens (Dan Stevens) unbedingt einen literarischen Erfolg. Den schreibt er tatsächlich, aber richtig loslegen kann er erst, wenn die Protagonisten auf den Plan treten. Zunächst hat er nur einen Titel und eine vage Vorstellung. Damit die Geschichte in seiner Imagination aber Gestalt annimmt, braucht er lebendige Gestalten. «You get the name right and then – if you’re lucky – the character will appear.» Dickens probiert verschiedene Varianten aus. Scratch? Scrounger? … Screwpull … Scrabbly … scr—rrrr—aahhh— chh … aahhh. Mr …. Scrimple! – Als er schliesslich «Scrooge!» ausruft, fährt ein Windstoss durch den Raum und Ebenezer Scrooge (Christopher Plummer) betritt leibhaftig die Bühne.
Mit einem Knalleffekt beginnt auch Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte: «Marley was dead: to begin with.» Ein Hammerschlag, der leicht nachfedert. An Kürze und Eindringlichkeit kaum zu überbieten. Zwei Mal drei Wörter. Das klingt wie eine Beschwörungsformel. Noch wissen wir nicht, was uns hier erwartet. Eine Weihnachtsgeschichte, die nicht mit einer Geburt, sondern mit einer Leiche beginnt, weckt unsere Aufmerksamkeit. Ist das eine kriminalistische Moritat? Oder eine unheilige Geistergeschichte, wie Dickens im Untertitel warnt? A Christmas Carol in Prose: Being A Ghost-Story of Christmas.
Marley war tot – so what?
Ein Blick auf die überaus zahlreichen Übertragungen macht deutlich, dass einfache Sätze nicht einfacher zu übersetzen sind. Ein gutes Dutzend Versionen habe ich zum Vergleich zusammengetragen. Der erste Teil scheint den Übersetzer:innen kaum Probleme zu bereiten: «Marley war tot.» Darin sind sich die meisten einig. Die Varianten beschränken sich vornehmlich darauf, ob danach ein Punkt, ein Doppelpunkt oder ein Strichpunkt folgt.
Marley war tot, so viel muss ich vorausschicken. (Julius Seybt, 1877) Marley war tot, damit wollen wir anfangen. (Richard Zoozmann, 1909) Marley war tot, das gleich zu Anfang. (Margit Meyer 1979) Marley war tot: Das muss ich vorausschicken. (Sybil Gräfin Schönfeldt, 1993) Marley war tot. So geht’s schon mal los. (Volker Kriegel, 1994) Marley war tot, so viel vorab. (Melanie Walz, 2011) Marley war tot; dies gleich zu Anfang. (Britta Mümmler, 2011) Marley war tot; dies zu Beginn. (Eike Schönfeld, 2014) Marley war tot, so viel vorweg. (Gundula Müller-Wallraf, 2017) Marley war tot, dies gleich vorneweg. (Hans-Christian Oeser, 2022)
Zwei Beispiele scheren hingegen aus und verpassen dem ersten Satz einen syntaktischen Dreh, indem sie leise beginnen und dann mit gewaltiger Wucht den Nagel einschlagen.
Zunächst einmal: Marley war tot. (Trude Fein, 1978)
Um es gleich vorauszuschicken: Marley war tot. (Isabelle Fuchs, 2007)
Der alte Marley war so tot wie ein Türnagel, heisst es weiter, und der Erzähler hält kurz inne, um darüber zu räsonieren, was an einem Türnagel so ausserordentlich tot sein soll und ob in diesem Fall ein Sargnagel nicht die bessere Wahl wäre.
Bei Dickens und den Übersetzungen, die seinem Beispiel folgen, steckt der übersetzerische Stachel im zweiten Satzteil. Einige Übersetzer:innen lassen den Hammerschlag langsam ausklingen, um dann neu anzusetzen: «Das muss ich vorausschicken» oder «So geht’s schon mal los». Andere versuchen es dem grossen Meister gleichzutun und entscheiden sich ebenfalls für drei kurze Wörter wie «dies zu Beginn», «so viel vorab» oder «dies gleich vorneweg». Ich möchte mich gern hier einreihen und schlage drei Wörter und vier Silben vor: Marley war tot – damit fängt’s an.
Woher nehmen Schriftsteller:innen eigentlich ihre Einfälle? Die Antwort erstaunt – und ist zugleich fast banal: Das Neue geht aus dem Alten hervor, indem wir Vertrautes variieren, umkrempeln oder auf ungewohnte Weise mit anderem kombinieren.
«Die beste Idee kommt in der Badewanne.» Neue Zürcher Zeitung 6.2.2021, S. 37. nzz.ch/feuilleton/
Autorinnen und Autoren können zu persönlichen Helden werden. Aber in ihren eigenen Romanen kommen sie mitunter ganz schlecht weg. Deshalb «Niemals den Helden begegnen», wie Henry David Thoreau in der Serie «Dickinson» zur Dichterin Emily Dickinson sagt.
Das Verhältnis zwischen Schriftsteller:innen und ihren Figuren ist manchmal ganz schön vertrackt. Wer treibt da eigentlich wen? Es gibt die literarischen Autokraten, die ihre Charaktere flach auf dem Papier halten. Und dann die Autorinnen und Autoren, die das Gefühl haben, sogar den Alltag mit ihren Figuren zu teilen. Welche Fraktion ist grösser?
«‹Sie sind Kleiderbügel!› – ‹Nein, sie leben.›» Neue Zürcher Zeitung 14.3.2020, S. 39. Online-Titel (16.3.2020): «Wer treibt da wen? Das Verhältnis zwischen Schriftstellern und ihren Figuren ist manchmal ganz schön vertrackt.» nzz.ch/feuilleton/