Es gibt keine Anfänge

Es gibt keine Anfänge

Zu den Anfängen mit Namensvorstellung kommen wir bei anderer Gelegenheit.1 Hier geht es mir um die präventive Ankündigung der Geschichte, um den Vorbehalt, das Caveat. Die Ich-Erzählerin in Eva Rottmanns Jugendroman Kurz vor dem Rand (Jacoby & Stuart, 2023) steigt mit einer Triggerwarnung ein. Wir sollen uns darauf gefasst machen, dass die Sache schlecht ausgeht. Das weckt unsere Neugierde – und vielleicht auch leise Zweifel. 

Den gleichen rhetorischen Trumpf spielt Daniel Handler (alias Lemony Snicket) im ersten Band seiner «Reihe betrüblicher Ereignisse» aus. Der schreckliche Anfang (The Bad Beginning, dt. v. Klaus Weimann) beginnt so:

Wenn du gern Geschichten mit einem Happy End liest, solltest du lieber zu einem anderen Buch greifen. In diesem gibt es kein Happy End, auch keinen glücklichen Anfang und nur wenig Erfreuliches mittendrin. 

Damit hat uns auch diese Geschichte an der Angel. Wie sagt doch Lord Henry in Oscar Wildes Roman zu Dorian Gray: «Eine Versuchung wird man nur los, indem man ihr nachgibt.» Ein Buch, vor dem wir ausdrücklich gewarnt werden, einer Lektüre, von der uns sogar abgeraten wird, stellt zweifellos eine Verlockung dar, der wir kaum widerstehen können. Wir möchten weiterlesen. Jetzt erst recht. Würde uns hingegen die beste aller Geschichten angepriesen, das grösste Lese-Erlebnis aller Zeiten versprochen, wäre die Antwort wohl eher ein «Vergiss es!». Immerhin wissen wir, was von solch vollmundigen Werbeversprechen zu halten ist.  

Lemony Snicket’s A Series of Unfortunate Events (USA 2004. Regie: Brad Silberling)

Aber schauen wir zuerst, wie das im Einzelnen funktioniert. Während uns Handler auf das unglückselige Leben der Baudelaire-Kinder vorbereitet («Fast alles, was ihnen zustiess, strotzte nur so vor Unheil, Elend und Verzweiflung.») setzt Eva Rottmann noch einen drauf, wenn Ari in rotzigem Ton beifügt, dass wir auf eigene Verantwortung handeln: «Es ist mir ehrlich gesagt scheissegal. Ihr könnt das machen, wie ihr wollt. Ich sag euch einfach, was auf euch zukommt.» Von Bevormundung hält sie – wie sich zeigen wird – definitiv nichts. Damit gibt uns die Ich-Erzählerin auch gleich eine Kostprobe ihrer harten Schale (unter der wir selbstverständlich etwas Empfindsames vermuten).

Hinzu kommt bald eine Lebensweisheit, die man durchaus als poetologisches Programm oder Erzählprinzip deuten darf:

Ich habe überlegt, wie ich anfangen soll, und dann ist mir eingefallen, was Tom mal gesagt hat. Dass es nämlich gar keine Anfänge gibt.

Geschickt verpackt sie darin eine inhaltliche Anspielung. Geht es also um Ari und Tom? Ist das die Lovestory ohne Happy End?

Wenn das Ende nicht gut ist, ist es vielleicht noch nicht das Ende

Als das grosse rote Buch, in dem Ari ihre Erlebnisse aufschreibt, fast voll ist, erreicht die Geschichte zwar ihren vorläufigen Schluss. Aber so wie es keine Anfänge gibt, ist mit dem fehlenden Happy End noch nicht das letzte Wort gesprochen. Ari liest noch einmal die beiden Anfangssätze ihres ersten Eintrags und muss plötzlich lachen. 

Eva Rottmann
Kurz vor dem Rand.
Berlin: Verlagshaus Jacoby & Stuart, 2023. 192 Seiten. Ab 14 Jahren.

  1. Herman Melvilles Moby-Dick mit seinem weltberühmten Anfangssatz wird uns sicher noch beschäftigen, aber um es für den Moment mit Melvilles Bartleby zu sagen: «Ich möchte lieber nicht.»  ↩︎
Magoria by Daniel F. Ammann