Wörter auf Reisen

  

Manchmal fehlen uns buchstäblich die Worte. Da müssen keine überwältigenden Gefühle im Spiel sein. Es kann schlicht vorkommen, dass sich im umfangreichen Lexikon unserer Sprache kein geeigneter Ausdruck findet.

In ihrem liebevoll gestalteten Buch Lost in Translation (DuMont 2017) porträtiert Ella Frances Sanders 51 Wortperlen aus der ganzen Welt, für die es in anderen Sprachen keine passende Entsprechung gibt. Sollte das illustrierte Bändchen wider Erwarten in einem Stapel ungelesener Bücher landen, so haben die Japaner dafür wenigstens ein Wort: Tsundoku.

Mit Total verrückte Wörter (360 Grad Verlag 2018) legen Nicola Edwards und ihre Illustratorin Luisa Uribe ebenfalls eine bunte Sammlung unübersetzbarer Wörter aus aller Welt vor. Kinder ab 8 Jahren lernen hier nicht nur 29 exotische Begriffe kennen, sondern erfahren in informativen Kurztexten einiges über die verschiedenen Herkunftsländer, deren Sprachen und Gebräuche. Jemanden, der schnell friert, nennt man im Spanischen «friolero». Oder haben doch die Schweizer den «G’frörlig» erfunden?

Ein Blick in Versunkene Wort-Schätze (Dudenverlag 2016) zeigt, dass wir mitnichten in die Ferne schweifen müssen, um einheimische Wortlücken zu füllen. Die Fundgrube überjähriger Vokabeln dokumentiert schnurrige Idiome, Redeblumen und jede Menge Wörter, die zusehends in Vergessenheit geraten und uns womöglich bald fehlen werden. Manch ein Ausdruck, der weiland à la mode war, könnte uns hinfort wieder zupasskommen oder gleichwohl für mehr lexikalische Vielfalt sorgen.

Daniel Ammann
Erschienen in: Akzente 1 2019): S. 35.
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Ella Frances Sanders
Lost in Translation: Unübersetzbare Wörter aus der ganzen Welt
Aus dem Englischen von Marion Herbert. Köln: DuMont, 2017. 112 Seiten.

Nicola Edwards
Total verrückte Wörter: Eine Sammlung unübersetzbarer Wörter aus aller Welt. Illustrationen von Luisa Uribe. Aus dem Englischen von Beatrix Rohrbacher. Schriesheim: 360 Grad Verlag, 2018. 64 Seiten. Ab 8 Jahren.

Versunkene Wort-Schätze: Wörter, die uns fehlen werden.
Berlin: Dudenverlag, 2016. 133 Seiten.

A Piece of Cake oder Übersetzen ist wie Gummitwist

Übersetzen ist wie Gummitwist – und trotzdem kein Kinderspiel.

Im Folgenden soll es jedoch nicht um ein children’s game wie Chinese jump rope, sondern um child’s play gehen, also etwas das kinder­leicht ist.

Wie im Deutschen das Kinderspiel so kann im Englischen die Wendung a piece of cake mal wörtlich, mal übertragen gemeint sein.

Wenn es in E. M. Forsters Roman Howards End heisst: «There she sat, a piece of cake in one hand, an empty champagne glass in the other», so dürfen wir uns ein Stück Kuchen vorstellen. «Da sass sie nun», übersetzt also Egon Pöllinger, «ein Stück Kuchen in der einen Hand, ein leeres Sektglas in der andern» (Wiedersehen in Howards End).

In der Hillbilly-Elegie von J.D. Vance fallen hingegen keine Krümel, denn hier geht es nicht um einen richtigen Cake (wie er in der Schweiz heisst). Aber auch das ist für den Übersetzer Gregor Hens nur ein Klacks:

«My schedule was intense, but everything that had made me fear the independent college life when I was eighteen felt like a piece of cake now.»
«Die Tage waren vollgepackt, aber alles, was ich mit achtzehn an der Unabhängigkeit des Studentenlebens gefürchtet hatte, war jetzt ein Kinderspiel.»

Pexels / Pixabay

Es wäre schon praktisch, wenn im Deutschen ebenfalls eine essbare Metapher zur Verfügung stünde, aber Übersetzen ist eben kein Honiglecken (not a piece of cake)! – Ich habe dazu ein paar Stichproben gemacht, aber wo immer in der Übersetzung von Honiglecken die Rede war, gab es im Original keinen cake:
«no fuckin’ Mardi Gras» (Julie Powell, Julie & Julia; Übers. Andrea Ott),
«no picnic» (Paul Auster, Mr. Vertigo; Übers. Werner Schmitz ),
«a taste of honey!» (David Mitchell, Der Wolkenatlas; Übers. Volker Oldenburg).

«Du meinst, es ist kein Honiglecken? Du hast ‹Zuckerschlecken› gesagt», korrigierte Farrokh seinen Freund.
«Das ist doch dasselbe», erwiderte Macfarlane.
(John Irving, Zirkuskind; Übers. Irene Rumler)

Im Original:

«Don’t you mean it’s no picnic? You said ‹no circus›», Farrokh told Mac.
«It’s the same expression», Macfarlane replied.

Auch nicht überall, wo im Deutschen Kinderspiel steht, verbirgt sich im Englischen das sprichwörtliche Stück Kuchen: «His arms to the shoulders and most of the legs beneath the knee were child’s play», heisst es in The Pale King von David Foster Wallace. In Paul Austers New-York-Trilogie hätte die umgangssprachliche Wendung a piece of cake womöglich das falsche Register angeschlagen: «Picking the lock on the front door is child’s play for Blue …»

Übersetzen ist wohl doch kein Kinderspiel à la Gummitwist – eher wie «Himmel und Hölle»!

Aber in Anlehmung an Bern Rullkötters Übersetzung von Peter Ackroyds Chatterton dürfen die Übersetzerinnen und Übersetzer auf keinen Fall klein beigeben – oder wie der Engländer sagt: eat humble pie:

«Dann sollen sie doch Kuchen essen.» («Let them eat cake», she said.)
«Meinen Sie nicht: kleine Brötchen backen?» («Don’t you mean humble pie?»)

Daniel Ammann, 4.1.2019

Alles auf A. Oder: T wie Tautogramm

Das Tautogramm ist ein Text, in dem alle Wörter mit dem gleichen Buchstaben beginnen. Alle. Ausnahmslos. Also aufgepasst!

Zum ersten Mal bewusst auf ein Tautogramm gestossen bin ich in David Lodges Ausführungen in The Art of Fiction (Penguin 1992), das ich für den Haffmans Verlag übersetzen durfte. In Kapitel 22 weist Lodge unter anderem auf den 1974 erschienenen experimentellen Roman Alphabetical Africa von Walter Abish hin. Dieser beginnt so:

Nur das erste und das letzte Kapitel sind wirklich Tautogramme. Im zweiten Kapitel kommt nämlich bereits der Buchstabe B ins Spiel, im dritten das C, und so weiter, bis das Alphabet komplett ist. Dann wird kapitelweise zurückbuchstabiert, bis wir am Schluss wieder bei A landen.

Zum Glück zitiert Lodge zur Illustration nur einen kurzen Absatz, aber das ist für den unerfahrenen Übersetzer Ammann Herausforderung genug: «Abermals Afrika: Als Albert ankommt, angeregt argumentiert, afrikanische Ausstellungskunst abhandelt, an afrikanischer Angst, aber auch, ach, ausgerechnet Ashanti-Architektur angreift …» (Lodge, Die Kunst des Erzählens, S. 133).

Die Sache hat mich nie ganz losgelassen, und irgendwann wollte ich mich selbst an einer tautogrammatischen Geschichte versuchen. Das Ergebnis findet sich unter dem Titel «Adeles Aufstieg» in meinem kleinen Erzählband Der weisse Schatten (Magoria 2018, S. 39–42). Die Geschichte zählt 438 Wörter und beginnt so:

Adele Abderhalden, Adoptivtochter alteingesessener Apo­the­ker aus Affoltern am Albis, arbeitet Anfang Achtzigerjahre aushilfsweise als Aupairmädchen aristokratischer Aargauer. Angenehme Aufgaben. Außerdem allerhand Annehm­lich­keiten: aparte Attikawohnung, ausgedehntes Anwesen, Auto auf Abruf, allabend­licher Ausgang. Andererseits auf­reibend. Arbeitgeber ausgesprochen angetan, aber arrogant. Aufgrund alter­tüm­licher Auffassungen Adeles adrettes Aus­sehen als Auffor­derung ausgelegt, also andauernde Anmache, Anzüg­lichkeiten aller Art, auch anstößige Anspie­lungen auf Adeles aufreizenden Arsch. Adele appelliert an Anstand. Aufdring­liche Avancen ausdrücklich abgewiesen.

Dass sich so ein sperriger Text dennoch gut vorlesen lässt, hat Schauspieler Reto Stalder am ersten Schweizer Vorlesetag vom 23. Mai 2018 gezeigt.

Wenn man der Handlung folgt und nicht ständig auf die Anfangsbuchstaben achtet, funktioniert der Text tatsächlich als Geschichte. Als ausgefuchstes Anschauungsbeispiel aberwitziger Alliterationen verstösst das zwar gegen das erste Schreibgebot – aber schliesslich sind solche Gebote dazu da, lustvoll gebrochen zu werden.


P.S.

Bereits 1983 hat sich Hanna Muschg in der Zeitschrift Manuskripte am ersten Kapitel aus Abishs Roman versucht (Heft 79, S. 4). 2002 erscheint der Roman Alphabetisches Afrika bei Urs Engeler als zweisprachige Ausgabe mit der Übersetzung von Jürg Laederach.

In seinem Beitrag mit dem Titel «Die Übersetzung als fortgeführtes Sprachexperiment» hat sich Robert Leucht unter anderem mit diesen Übersetzungen befasst (ZiG – Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7/2016/H1. Hrsg. v. Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer u. Hein Sieburg. Bielefeld: transkript, 2016. S. 11–31.)

Auf ein Wort: Was ist falsch am falschen Hund?

Auf ein Wort: Was ist falsch am falschen Hund?

Übersetzungen sind ein Glück – aber immer auch Glückssache. Es ist eine Freude, dass es sie gibt, und ebenso, dass immer wieder neue entstehen. Die vielen Neuübersetzungen bringen allerdings ein Problem mit sich, wenn die aktuelle Übertragung um jeden Preis vom bisherigen abweichen will. Man denke an den Kleinen Prinzen und den Satz: «Man begreift gar nichts, wenn das Herz nicht dabei ist.» Enzensberger (dtv 2015) hat es sicher gut gemeint, aber an der Formulierung «Man sieht nur mit dem Herzen gut» ist nichts auszusetzen, erst recht, wenn man berücksichtigt, dass es sich schon um ein geflügeltes Wort handelt.

Ich will nicht auf Details herumreiten, aber zwei Beispiele bringen, die mir letzthin aufgefallen (und leicht missfallen) sind.

Anlässlich meiner Jane-Austen-Streifzüge bin ich in der neusten Übersetzung von Andrea Ott (Vernunft und Gefühl. Manesse 2017) über die Formulierung «falscher Fuffziger» gestolpert. Sir John Middleton macht seinem Ärger über den niederträchtigen Willoughby Luft und nennt ihn scoundrel und deceitful dog. Der scoundrel wird in der Regel mit «Schurke» oder «Schuft» wiedergegeben, aus dem deceitful dog wird im Deutschen ein «falscher» oder «hinterlistiger Hund». Andrea Ott macht daraus einen «falschen Fuffziger». Die metaphorische Wendung mit berlinerischem Einschlag bezeichnet zwar ebenfalls einen unaufrichtigen Menschen, nur will das Bild nicht so recht in die englische Szenerie und den Mund des Landadels passen.

Auch wenn eine Neuübersetzung von Hemingways A Moveable Feast (Paris, ein Fest fürs Leben. Rowohlt 2011) zu begrüssen ist und Werner Schmitz (wie uns Thomas Hermann in der NZZ vom 2. Juli 2011 versichert) gute Arbeit geleistet hat, will mir eine Passage in der Übertragung von Annemarie Horschitz-Horst doch besser gefallen. Anlass für einen Vergleich war ein Besuch in Schruns, wo die besagte Textstelle im Biergarten des Hotels Taube auf eine grosse Metallplatte vor dem Schanktisch eingraviert ist.

[…] WIR LIEBTEN VORARLBERG, UND WIR LIEBTEN SCHRUNS […]
ALS ES DEM FRÜHLING ZUGING, GAB ES DIE GROSSE GLETSCHERABFAHRT, GLATT UND GERADE, ENDLOS GERADE, WENN UNSERE BEINE ES DURCHHALTEN KONNTEN; DIE KNÖCHEL ANEINANDERGEDRÜCKT, LIEFEN WIR GANZ TIEFGEDUCKT, ÜBERLIESSEN UNS DER GESCHWINDIGKEIT UND GLITTEN ENDLOS, ENDLOS IM STILLEN ZISCHEN DES KÖRNIGEN PULVERSCHNEES. ES WAR SCHÖNER ALS JEDES FLIEGEN ODER SONST IRGEND ETWAS. […]

Darunter steht als Quelle: Ernest Hemingway, Paris – ein Fest fürs Leben, deutsche Fassung 1965.

In der Übertragung durch Werner Schmitz würde der Text wie folgt lauten:

«Vorarlberg und Schruns gefielen uns sehr. […]
Schließlich die große Abfahrt den Gletscher hinunter, glatt und geradeaus, ewig geradeaus, wenn die Beine das aushielten, die Knöchel eng aneinander, tief gebückt in die Geschwindigkeit gelehnt, fielen und fielen wir im stillen Zischen des frischen Pulverschnees. Das war besser als Fliegen und alles andere […]»

Und zum Vergleich noch im Originalton:

«We loved the Vorarlberg and we loved Schruns. […]
Finally towards spring there was the great glacier run, smooth and straight, forever straight if our legs could hold it, our ankles locked, we running so low, leaning into the speed, dropping forever and forever in the silent hiss of the crisp powder. It was better than any flying or anything else […].»

Daniel Ammann, 11.8.2017 

Millions and milliards …

You’ll never guess, I’ll bet you millions, milliards—
It all sprung from a harmless game at billiards.
Lord Byron, Don Juan (Canto XIV)

In seinem Buch über den Marshmallow-Test (München: Siedler, 2015) schreibt Walter Mischel: «Im menschlichen Körper enthält jede der rund eine Billion Zellen in ihrem Kern eine vollständige, identische DNA-Sequenz.»

milliarde

Immer wenn in einem Nachrichtenbeitrag oder in einem Sachbuch von Billionen die Rede ist, werde ich unsicher. Belaufen sich die Kosten tatsächlich auf eine Billion Dollar oder haben wieder einmal die falschen Freunde bei der Übersetzung mitgemischt? A billion dollars sind nämlich 109, also tausend Millionen Dollar. Auf Deutsch also eine Milliarde. So wird die englische trillion dann zur deutschen Billion (1012), während die deutsche Trillion eine Million Billionen (1018) umfasst. Und dazwischen haben wir (mit tausend Billionen) dann noch die Billiarde.

Das wäre alles nicht so schlimm und könnte durch Prüfung der Quellen und sorgfältige Übersetzung aufgefangen werden. Aber unter billion hält das Oxford English Dictionary auch Folgendes fest: «orig. and still commonly in Great Britain: A million millions.» Und zu trillion heisst es: «In U.S., and increasingly in Britain: A thousand millions.»

Um ganz sicher zu gehen, werfen wir also besser einen Blick in die Originalausgabe von Walter Mischels The Marshmallow Test: «In the human body, each of approximately a trillion cells holds within its nucleus a complete and identical sequence of DNA.» Glück gehabt. Dem Übersetzer sei Dank!

Daniel Ammann, 31.5.2015

Der letzte Satz: «Mann im Dunkel» von Paul Auster

«Yes, Dad, she says, studying her daughter with a worried
look in her eyes, the weird world rolls on.»
«Ja, Dad, sagt sie und betrachtet ihre Tochter aus  sorgenvollen
Augen, die wunderliche Welt dreht sich weiter.»
Paul Auster, Man in the Dark / Mann im Dunkel

Paul Auster: Mann im DunkelNach einem Autounfall bleibt der 72-jährige Ich-Erzähler August Brill an den Rollstuhl gefesselt. Nachts liegt er wach und verdrängt schmerzhafte Erinnerungen, indem er sich eine Geschichte ausdenkt. «Nichts Besonderes», meint er, «aber solange ich mich damit beschäftige, muss ich schon nicht an die Dinge denken, die ich lieber vergessen möchte.» Man schreibt das Jahr 2007. Die Anschläge vom 11. September haben niemals stattgefunden, und statt im Irak wütet ein erbitterter Krieg im eigenen Land.

Paul Auster lässt seinen hintergründigen Roman über menschliches Schicksal, Parallelwelten und die unbändige Kraft des Erzählens mit einem Satz von Rose Hawthorne enden. Sie war das jüngste von Nathaniel Hawthornes drei Kindern und Brills Tochter Miriam schreibt eine Biografie über sie. «Rose Hawthorne war keine besonders gute Dichterin, oder?», fragt Brill. «Nein», antwortet Miriam. «Ehrlich gesagt, war sie furchtbar schlecht.» Aber ein Satz aus ihrem Gedichtband Along the Shore hat es beiden angetan: «The weird world rolls on.»

Bei Rose Hawthorne lautet die Stelle: «As the weird earth rolls on». Ist es Zufall oder Absicht, dass Auster diese eine Zeile mit einem Stabreim aufwertet? In der deutschen Übersetzung von Werner Schmitz wird daraus sogar eine dreifache Alliteration: Die wunderliche Welt dreht sich weiter. Sieben Mal kommt der Satz in Mann im Dunkel vor und hallt am Ende als Schlussakkord nach – «lakonisch, im Grunde abgedroschen und trotzdem zutiefst weise», meinte Jürgen Brôcan in seiner NZZ-Rezension (2.12.2008, 43). Die genaue Quelle wird im Roman nicht erwähnt, aber passenderweise stammt die Zeile aus einem Gedicht mit dem Titel «Closing Chords».


Auster, Paul. Man in the Dark. London: Faber and Faber, 2009. 180 Seiten.
Auster, Paul. Mann im Dunkel. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2008. 220 Seiten.

Magoria by Daniel Ammann