Der Mann, der Weihnachten erfand

Der Mann, der Weihnachten erfand

The Man Who Invented Christmas lautet der Titel eines vergnüglich-skurrilen Biopics über Charles Dickens und die Entstehung seiner weihnächtlichen Gespenster­geschichte «A Christmas Carol» (1843) – auf Deutsch unter anderem bekannt als «Eine Weihnachts­geschichte», «Ein Weih­nachts­lied in Prosa», «Der Weih­nachts­abend» oder «Ein Weih­­nachts­märchen». 

What’s in a name?

Auch wenn Anfänge wichtig sind und so manche Erzählung ihre Existenz einem genialen ersten Satz verdankt – Bharat Nalluris Spielfilm aus dem Jahr 2017 erzählt eine andere Geschichte. Nach mehreren Fehlschlägen und finanziell in Bedrängnis braucht der unnachahmliche Charles Dickens (Dan Stevens) unbedingt einen literarischen Erfolg. Den schreibt er tatsächlich, aber richtig loslegen kann er erst, wenn die Protagonisten auf den Plan treten. Zunächst hat er nur einen Titel und eine vage Vorstellung. Damit die Geschichte in seiner Imagination aber Gestalt annimmt, braucht er lebendige Gestalten. «You get the name right and then – if you’re lucky – the character will appear.» Dickens probiert verschiedene Varianten aus. Scratch? Scrounger? … Screwpull … Scrabbly … scr—rrrr—aahhh— chh … aahhh. Mr …. Scrimple! – Als er schliesslich «Scrooge!» ausruft, fährt ein Windstoss durch den Raum und Ebenezer Scrooge (Christopher Plummer) betritt leibhaftig die Bühne.

Der Mann, der Weihnachten erfand

Mit einem Knalleffekt beginnt auch Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte: «Marley was dead: to begin with.» Ein Hammerschlag, der leicht nachfedert. An Kürze und Eindringlichkeit kaum zu überbieten. Zwei Mal drei Wörter. Das klingt wie eine Beschwörungsformel. Noch wissen wir nicht, was uns hier erwartet. Eine Weihnachts­geschichte, die nicht mit einer Geburt, sondern mit einer Leiche beginnt, weckt unsere Aufmerksamkeit. Ist das eine kriminalistische Moritat? Oder eine unheilige Geistergeschichte, wie Dickens im Untertitel warnt? A Christmas Carol in Prose: Being A Ghost-Story of Christmas.

Marley war tot – so what?

Ein Blick auf die überaus zahlreichen Übertragungen macht deutlich, dass einfache Sätze nicht einfacher zu übersetzen sind. Ein gutes Dutzend Versionen habe ich zum Vergleich zusammengetragen. Der erste Teil scheint den Übersetzer:innen kaum Probleme zu bereiten: «Marley war tot.» Darin sind sich die meisten einig. Die Varianten beschränken sich vornehmlich darauf, ob danach ein Punkt, ein Doppelpunkt oder ein Strichpunkt folgt.

Marley war tot, so viel muss ich vorausschicken. (Julius Seybt, 1877)
Marley war tot, damit wollen wir anfangen. (Richard Zoozmann, 1909)
Marley war tot, das gleich zu Anfang. (Margit Meyer 1979)
Marley war tot: Das muss ich vorausschicken. (Sybil Gräfin Schönfeldt, 1993)
Marley war tot. So geht’s schon mal los. (Volker Kriegel, 1994)
Marley war tot, so viel vorab. (Melanie Walz, 2011)
Marley war tot; dies gleich zu Anfang. (Britta Mümmler, 2011)
Marley war tot; dies zu Beginn. (Eike Schönfeld, 2014)
Marley war tot, so viel vorweg. (Gundula Müller-Wallraf, 2017)
Marley war tot, dies gleich vorneweg. (Hans-Christian Oeser, 2022)

Zwei Beispiele scheren hingegen aus und verpassen dem ersten Satz einen syntaktischen Dreh, indem sie leise beginnen und dann mit gewaltiger Wucht den Nagel einschlagen.

Zunächst einmal: Marley war tot. (Trude Fein, 1978)

Um es gleich vorauszuschicken: Marley war tot. (Isabelle Fuchs, 2007)

 Der alte Marley war so tot wie ein Türnagel, heisst es weiter, und der Erzähler hält kurz inne, um darüber zu räsonieren, was an einem Türnagel so ausserordentlich tot sein soll und ob in diesem Fall ein Sargnagel nicht die bessere Wahl wäre.

Bei Dickens und den Übersetzungen, die seinem Beispiel folgen, steckt der übersetzerische Stachel im zweiten Satzteil. Einige Übersetzer:innen lassen den Hammerschlag langsam ausklingen, um dann neu anzusetzen: «Das muss ich vorausschicken» oder «So geht’s schon mal los». Andere versuchen es dem grossen Meister gleichzutun und entscheiden sich ebenfalls für drei kurze Wörter wie «dies zu Beginn», «so viel vorab» oder «dies gleich vorneweg». Ich möchte mich gern hier einreihen und schlage drei Wörter und vier Silben vor: Marley war tot – damit fängt’s an.

Wie würden Sie beginnen?

Daniel Ammann, 12.2.2025


Siehe auch:

Lesen Sie wohl!

Lesen Sie wohl!

«Lesen Sie wohl!»
Akzente 1 (2025): S. 35.
blog.phzh.ch/akzente/2025/02/26/lesen-sie-wohl/
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Da dies die letzten Medientipps für Akzente sind, gibt es zum Abschied Hinweise auf Bücher mit weiteren Lektüretipps. Die kann man lesen, um herauszufinden, was sich zu lesen lohnt. Die neue ZEIT-Bibliothek der Weltliteratur (Suhrkamp, 2024) legt gleich vor und empfiehlt «100 Bücher, 100 Lebensgefährten». Die Tipps sind nach thematischen Fragen gruppiert, z. B. «Wer begleitet mich durch die Nacht?», «Wer tröstet mich, wenn ich traurig bin?» oder – ein Dauerbrenner – «Wer bin ich?». Viele der Besprechungen stammen übrigens von namhaften Schriftsteller:innen, die man dann ebenfalls auf die Leseliste setzen kann. Für die nächsten Jahre ist also gut vorgesorgt.
Hilfreich bei der Lektürewahl sind mitunter sogar schonungslose Verrisse. In seiner Bestsellerbibel (Piper, 2024) präsentiert der Literaturkritiker Denis Scheck deshalb «Schätze und Schund aus 20 Jahren». Da dürfen «Die Zehn Gebote des Lesens» nicht fehlen, und in 21 pointierten Essays erfährt man, warum die meistverkauften Bücher nicht die besten sind und wozu Literatur überhaupt taugt, ob Bücher Leben retten oder uns zu besseren Menschen machen.
Autorinnen und Autoren produzieren aber nicht nur reichhaltigen Lesestoff. Wie der von Mara Delius und Marc Reichwein heraus­gege­bene Band 111 Action­szenen der Weltliteratur (Aufbau, 2024) auf unterhaltsame Weise demonstriert, liefern auch ihre Lebens­geschichten dramatische Episoden und heitere Anekdoten, die es zu erzählen lohnt.
– Daniel Ammann




Literaturangaben

Zeitverlag Gerd Bucerius, Hrsg.
Die neue ZEIT-Bibliothek der Weltliteratur.
«100 Bücher, 100 Lebensgefährten»
Berlin: Suhrkamp, 2024. 462 Seiten.

Denis Scheck
Schecks Bestsellerbibel zurück.
Schätze und Schund aus 20 Jahren.
München: Piper, 2024. 432 Seiten.

Mara Delius und Marc Reichwein, Hrsg.
111 Actionszenen der Weltliteratur.
Mit 11 Illustrationen von Paul Fretter.
Berlin: Aufbau Verlag, 2024. 384 Seiten.

Jetzt schlägt’s dreizehn

Jetzt schlägt’s dreizehn

Noch einmal das Wetter, aber diesmal geht es um die Frage, was uns ein erster Satz über die Geschichte verrät, welche Erwartungen er weckt oder welche Atmosphäre schon die ersten Worte trans­por­tieren.

George Orwells berühmter Romananfang führt das sehr schön vor Augen. Unfreundliches Wetter – wie die ursprüngliche Manuskript­fassung («a cold, blowy day»1) unterstreicht und die nachfolgenden Zeilen bestätigen: «his chin nuzzled into his breast in an effort to escape the vile wind».

Keine Rede also von frühlingshaften Temperaturen und milden Schauern wie sie Geoffrey Chaucer mehr als fünf Jahrhunderte früher im Prolog seiner Canterbury Tales besingt:

Wenn milder Regen, den April uns schenkt,
Des Märzes Dürre bis zur Wurzel tränkt,
In alle Poren süssen Saft ergiesst,
Durch dessen Wunderkraft die Blume spriesst;

Geoffrey Chaucer, Canterbury-Erzählungen (in der Übersetzung von Detlef Droese)

Mit dem kurzen Hinweis auf das unwirtliche Wetter suggeriert Orwell ein realistisches Setting. Was uns dann jedoch überrascht, irritiert und auf eine aussergewöhnliche Geschichte vorbereitet, sind die letzten Worte des ersten Satzes. Auch wenn unsere heutigen Zeitmesser 24 Stunden anzeigen, schlägt es nie dreizehn. Orwells sorgfältige Überarbeitungen der Textstelle zeigen zudem, wie gekonnt er diesen Effekt erzeugt. Die Wendung «a million radios» in der Manuskriptfassung ersetzt er in einem ersten Schritt durch «innumerable clocks» und verdichtet und vereinfacht schliesslich zu «the clocks». Die scheinbare Normalität gerät unversehens ins Wanken und lässt uns mit der Frage zurück, in welcher Zeit wir hier gelandet sind?

Die geschilderten Umstände machen den Leser:innen bald klar, dass hier eine Schreckensvision heraufbeschworen wird. «Science-fiction erzählt uns normalerweise, wie andersgeartet die materiellen Lebensbedingungen in der Zukunft sein werden», merkt David Lodge dazu an (Die Kunst des Erzählens). «Orwell deutet an, dass sie ziemlich gleich wären, nur einfach schlechter.» Dass Orwell seine beklemmende Dystopie ausgerechnet im April beginnen lässt, dürfte kein Zufall sein und lässt unvermeidlich an die erste Zeilen aus T. S. Eliots Waste Land (1922) denken: «April is the cruellest month …»

April ist der grausamste Monat, er zieht
Flieder aus dem toten Land, mischt
Erinnerung und Verlangen, weckt
Dumpfe Wurzeln mit Frühlingsregen.

T. S. Eliot, «The Waste Land» (in der Übersetzung von Klaus Junkes-Kirchen)

– Daniel Ammann (11.1.2025)

  1. Das Faksimile des Typoskripts mit Orwells handschriftlichen Anmerkungen zeigt deutlich, dass er das ursprüngliche «cold, blowy» durch «bright, cold» ersetzt hat. Interessanterweise wird das Komma nach «bright» dann nicht in die erste gedruckte Ausgabe übernommen. Vermutlich Orwells Entscheidung, da er selbst die letzte (leider nicht erhaltene) Fassung für den Verlag vorbereitet hat. Les Hurst von der Orwell Society schreibt mir dazu: «Although that final typed copy no longer exists the fact that no comma appeared in the printed book must be taken as Orwell’s intention to have no comma.»
    ↩︎

Siehe auch: 

Literarische Volte

Literarische Volte

Einer der berühmtesten Textanfänge stammt aus der 1912 entstandenen Erzählung «Die Verwandlung» von Franz Kafka. Diesem ersten Satz kann man sich nicht entziehen. Er sprengt die Grenzen der realen Welt und stürzt uns in einen Wirklichkeit gewordenen Albtraum. Als im Rahmen eines internationalen Wettbewerbs 20071 nach dem schönsten ersten Satz gesucht wurde, schaffte es Kafkas Eröffnungssatz in der Kategorie Erwachsenenliteratur auf den 2. Platz. Saša Stanišić hält ihn gar für so brillant, dass die Geschichte keiner weiteren Spezialeffekte bedarf.

Das einzig spannende Ereignis ist doch, wenn der Typ als Käfer aufwacht. Zack. Das dauert genau einen Satz, den ersten. Der ist aber so gut, dass es danach keine Spannung mehr braucht.

Saša Stanišić in Zehn Gebote des Schreibens ( 1132)

Der britische Autor Ian McEwan erweist Kafka in seiner Novelle Die Kakerlake3 (Diogenes 2019) die Ehre. Er dreht den Spiess jedoch um und lässt das titelgebende Ungeziefer im Körper des britischen Premierministers erwachen. Es beginnt also gleich mit einer intertextuellen Volte.

Literarische Volte

Aber darf man einfach so abkupfern, parodieren und travestieren? Selbstverständlich würde T. S. Eliot antworten. Bereits vor hundert Jahren hat der namhafte Lyriker und Kritiker der Dichtung die Lizenz zur Aneignung ausgestellt: «Unreife Dichter imitieren; reife Dichter stehlen.» Während die schlechten Dichter:innen ihre Vorbilder verunstalten, argumentiert Eliot, machen die guten daraus etwas Besseres oder schaffen zumindest etwas anderes. – Literatur hat die Kraft zur Verwandlung.

  1. Der schönste erste Satz. Eine Auswahl der charmantesten und eindrucksvollsten Beiträge zum internationalen Wettbewerb «Der schönste erste Satz». Hrsg. von der Initiative Deutsche Sprache und der Stiftung Lesen. Ismaning: Hueber Verlag, 2007. ↩︎
  2. Zehn Gebote des Schreibens. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2011. – Siehe dazu auch meine Rezension «Regeln für die Ausnahme» in der NZZ vom 18.4.2012. ↩︎
  3. McEwan, Ian. Die Kakerlake. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Mit einem bisher unveröffentlichten Vorwort von Ian McEwan. Zürich: Diogenes, 2019. ↩︎

Benedict Wells meets Charles Simmons

Benedict Wells meets Charles Simmons

Spätestens seit Umberto Eco wissen wir, dass Bücher miteinander sprechen, auch wenn sie zur Übermittlung menschlicher Leserinnen und Leser bedürfen. Wie sagt William von Baskerville in Der Name der Rose so schön? «Mir scheint, als ob ich einige dieser Worte schon irgendwo gelesen hätte, sie erinnern mich an ähnliche, die ich früher gehört habe.»

Benedict Wells meets Charles Simmons

In seinem Buch Die Geschichten in uns (Diogenes 2024) verrät uns Bendedict Wells in einem Unterkapitel mit der Überschrift «Steal your darlings» in einer Fussnote, dass es sich beim ersten Satz seines Romans Hard Land (Diogenes 2021) um «eine Variation des ersten Satzes aus der Novelle Salzwasser (Orig. Salt Water, 1998) von Charles Simmons handelt. Ohne Vorbilder und kreative Imitation könnten Autorinnen und Autoren wohl kaum einen unverwechselbaren Stil entwickeln oder ihre eigene Stimme finden. Nur durch Nachahmung kann sich Literatur zu neuen Höhen aufschwingen.

David Lodge hat es schon richtig gesagt: Man kann keinen Roman schreiben, wenn man nicht mindestens einen – besser noch ganz viele – gelesen hat:

How does one become a writer? One thing is certain: nobody ever wrote a book without having read at least one – and more probably hundreds – of approximately the same kind. Most writers [...] begin by imitating and emulating the literature that gives them the biggest kicks. [...] And it is from reading that you acquire basic knowledge of the structural and rhetorical devices that belong to a particular genre or form of writing. To a large extent this learning process is intuitive and unconscious, like learning the mother tongue.

David Lodge, The Practice of Writing (1996, 171)

Nicht nur die KI, auch wir «trainieren» uns an Texten (gleichwohl auf ganz andere Weise). Und die Leser:innen und Kritiker:innen (oder die Gerichte) müssen dann entscheiden, ob die entstehenden Texte bloss mehr vom Gleichen sind oder doch etwas Neues in die Welt bringen. Nicht nur die Wissenschaftler:innen, auch Künstlerinnen und Künstler stehen auf den Schultern von Riesen.

Daniel Ammann, 7.–10.12.2024

Ein Tag im Leben der Erde

Ein Tag im Leben der Erde

«Ein Tag im Leben der Erde.»
Akzente 4 (27.11.2024).
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Unseren Heimatplaneten einmal von aussen betrachten – das wurde erst durch die Raumfahrt möglich. Am eindrücklichsten sind zwei Aufnahmen aus dem All, die sich als ikonische Bilder ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben und unsere Sicht auf die Erde bis heute prägen.

Die Astronauten der Apollo­-8-Mission umkreisen den Mond und werfen als erste Menschen einen Blick auf die Rückseite unseres Trabanten. Am 24. Dezember 1968 schiesst Astronaut Bill Anders (1933–2024) das legendäre Farbfoto der aufgehenden Erde. Über der kargen Kraterlandschaft des Mondes schwebt unser Planet als zarte Blase im endlos schwarzen All. Der Name «Earthrise» ist allerdings irreführend, denn von der uns zugewandten Seite des Mondes ist die Erde immer sichtbar.

Apollo 17 Full Earth photo
View of the Earth as seen by the the crew of the Apollo 17 spacecraft en route to the Moon at a distance of about 29,400 kilometres (Quelle: NASA).

Vier Jahre später entsteht während der Apollo-17-Mission das ebenso berühmte «Blue Marble»-Foto, das die Erde als Ganzes zeigt. Ein Vorläufer dieses Bildes hat auch Eingang gefunden in Samantha Harveys mit dem diesjährigen Booker Prize ausgezeichneten Roman Umlaufbahnen (Orig. Orbital):

Auf dem Foto, das Collins gemacht hat, sieht man die Mondfähre mit Armstrong und Aldrin darin, direkt hinter ihnen der Mond, und etwa vierhunderttausend Kilometer weiter dahinter die Erde, eine blaue Halbkugel, in völliger Finsternis schwebend, mit der Menschheit darauf.

Dieses überwältigende Schauspiel bietet sich den Astronaut:innen an Bord des fiktionalen Raumschiffs tagaus, tagein. Durch das Fenster sehen sie den blauen Planeten «im grellen Licht […] wieder einmal wie eine Glasmurmel im schwärzesten All». Nichts Ungewöhnliches, möchte man meinen.

Auf ihrer Mission hat die Crew – zwei Astronauten, zwei Astronautinnen, zwei Kosmonauten – den Globus stets im Blick, beobachtet, wie er gleich einer polierten Kugel unter ihnen vorbeirollt und Kontinente, Meere, leuchtende Grossstädte, Berge, Gletscher und Wüsten lautlos vorüberziehen. Selbst der Taifun, der sich über den Westpazifik Richtung Südostasien schiebt und grosse Verheerungen anrichten wird, erscheint vierhundert Kilometer über dem Erdboden als harmlos schönes Muster.

Samantha Harvey erzählt in ihrem denkwürdigen Roman einen einzigen Tag, obgleich es im Orbit keine Tage im eigentlichen Sinn gibt, so wie in der überirdischen Schwerelosigkeit auch oben und unten ihre Bedeutung verlieren. Sechzehnmal umkreisen die Astronaut:innen aus Amerika, Japan, Grossbritannien, Italien und Russland an diesem Tag ihre terrestrische Heimat, deren physikalische und emotionale Anziehungskraft sie in der Umlaufbahn und bei Verstand hält. Ständig ändert sich die Perspektive und dennoch bleibt sich alles gleich. «Ungefähr neun Monate werden sie alle hier sein, neun Monate schwerelosen Treibens, neun Monate geschwollener Kopf, neun Monate Sardinenbüchse, neun Monate auf die Erde hinabglotzen.»

Mit den Figuren wechseln auch wir die Perspektiven, tauchen in ihre Träume und Erinnerungen ein, nehmen an ihren täglichen Verrichtungen und Aufgaben teil, richten mit ihnen den Blick auf die Erde – und erkennen ihre atemberaubende Schönheit und Zerbrechlichkeit.

Die Übersetzerin und Autorin Julia Wolf schafft es, Samantha Harveys unspektakulär poetische Sprache auf sorgfältige Weise ins Deutsche zu übertragen. Damit erweist sich auch die Übersetzung des Romans als bookerpreiswürdig.

– Daniel Ammann

Samantha Harvey.
Umlaufbahnen.
Aus dem Englischen von Julia Wolf.
München: dtv, 2024. 223 Seiten.

Ein Tag im Leben der Erde
Magoria by Daniel Ammann