Zadie Smiths E-Mail an E. M. Forster

Zadie Smiths E-Mail an E. M. Forster


Nach dem Beitrag zum E-Mail- und Briefroman von Holly Sloan und Meg Wolitzer knüpfe ich in Episode 6 meiner Zwillingsanfänge thematisch an:
E. M. Forster lässt Helen einen Brief an ihre Schwester schreiben. Zadie Smith steigt fast hundert Jahre später mit Jeromes E-Mail an seinen Vater ein. Im Original springt die textliche Anlehnung sofort ins Auge. Bei den Übersetzungen will das nicht so ganz klappen.

Zadie Smiths E-Mail an E. M. Forster

Sollte es von Howard’s End nach 40 Jahren eine Neuübersetzung geben, würde ich deshalb empfehlen, sich an Zadie Smith zu orientieren:


«Ebenso gut könnte man mit Helens Briefen an ihre Schwester beginnen.»

Schön und schlank. Und so schliessen sich die intertextuellen Kreise wieder.

Daniel Ammann, 25.7.2025

Der Tag, an dem der Milchmann starb

Der Tag, an dem der Milchmann starb

Ein bisschen riskant ist es schon, wenn wir im ersten Satz schon um das Leben der Ich-Erzählerin bangen müssen. Noch ehe wir sie kennenlernen. Dann kippt die Bedrohung am Ende allerdings gleich wieder weg, weil es einer anderen Figur an den Kragen geht. Ob das eine mit dem anderen zu tut hat, kann nur die Lektüre beantworten. 

Und wer hätte erwartet, dass wir auf Seite 450 nach einer düsteren Geschichte auf einen so wunderbar hellen Schlusssatz zusteuern? – «Und als ich auf dem Gehweg in Richtung des Parks mit den Stauteichen aufkam, atmete ich das Licht wieder aus, und kurz, ganz kurz, musste ich beinahe fast lachen.» Die letzten vier Worte mit diesem zauberhaft zwinkernden Doppler in der Mitte klingen nach. 

Daniel Ammann, 22.7.2025

Der Tag, an dem der Milchmann starb

Anna Burns
Milchmann.
Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll.
Stuttgart: Tropen-Verlag, 2020. 452 Seiten.

Ich schreibe dir trotzdem

Ich schreibe dir trotzdem

Erste Sätze haben es in sich. Und sie verraten uns eine ganze Menge. Der Kinderroman der Autorinnen Sloan und Wolitzer zum Beispiel eröffnet mit einer E-Mail und lässt schon durchblicken, dass sich Bett und Avery noch nicht kennen. Aber dabei wird es wohl nicht bleiben, denn es folgen noch viele weitere E-Mails.

Der abrupte und verblüffende Einstieg in eine Geschichte hat auch Eingang in unser Lehrmittel Apropos Medien 5/6 gefunden – und zwar in der Rubrik Flaschenpost (Kap. 6, S. 45). Hat nicht jede E-Mail und jeder Romananfang etwas von einer geheimnisvollen Flaschenpost? Kommunikation beginnt mit dem ersten Satz, manchmal noch ehe man weiss, mit wem man es zu tun hat, woher die Botschaft kommt und worauf man sich einlässt. 

Daniel Ammann, 15.7.2025

Holly Sloan und Meg Wolitzer
An Nachteule von Sternhai
.

Aus dem Englischen v. Sophie Zeitz.
München: dtv, 2021. 288 Seiten. Ab 11 Jahren.

In einem kühlen Grunde

Vor gut vierzig Jahren machte sich Dieter E. Zimmer angesichts des angebrochenen Computerzeitalters bereits Gedanken über die Zukunft des literarischen Übersetzens. «In der Euphorie des Anfangs», schreibt er 1986, «hat man den Computer über- , weit mehr aber noch den menschlichen Geist unterschätzt». In der Taschenbuchausgabe resümiert er zwei Jahre später mit einer gewissen Genugtuung, eine «allen Qualitätsansprüchen gerecht werdende Übersetzung beliebiger Texte» sei tatsächlich nicht in Sicht. Entweder fallen die Resultat dürftig aus oder der Mensch muss nachhelfen, indem er die Texte vorgängig für den Computer aufbereitet oder «durch eine gründliche Nachredaktion nach getanem Maschinenwerk» optimiert (1988, 185).

Dass es nach vier Jahrzehnten Forschung noch keine Maschine gebe, «die man mit egal welchen Texten allein lassen könnte», erst recht nicht mit stilistisch anspruchsvollen oder literarichen Texten, illustriert und kommentiert Zimmer am Beispiel der Anfangszeilen aus Joseph von Eichendorffs Gedicht «Das zerbrochene Ringlein» (1813).

Selbst wenn der Computer imstande sei, morphologische und syntaktische Strukturen richtig zu erkennen, fehle ihm das semantische Wissen. Laut Zimmer käme dabei etwas heraus wie: In a cool reason since a mill wheel goes. Denn wie sollte der Computer auch wissen, «dass Grund hier nicht reason, sondern valley sein müsste, geht nicht goes, sondern turns, da nicht since, sondern there

Heute kennen wir die Antwort. Die maschinelle Übersetzung arbeitet nicht mit Analysen und lexikalischen Bedeutungen aus dem Wörterbuch, sondern mit algorithmisch produzierten Erwartbarkeiten.  Ein Teil der von Zimmer befürchteten Defizite lassen sich auf diese Weise verhindern. Das ausgewählte Textstück ist zwar sehr kurz und bietet wenig Kontext, aber es ist einen Versuch wert, die Probe aufs Exempel zu machen. So habe ich die kurzen Gedichtzeilen aus Zimmers Beispiel in verschiedene frei zugängliche Übersetzungsmachinen gefüttert. Supertext, DeepL und Google Translate liefern folgende Vorschläge: 

In a cool base
there goes a mill wheel 

Als Alternativen für base werden von Suptertext ground, background, bottom, reason, soil, environment und depth angeboten. Die Vorschläge für goes sind nicht brauchbar.

In a cool ground
there goes a mill wheel

Als Varianten für ground werden von DeepL valley, glade, meadow, woods oder plain aufgeführt; für goes immerhin spins, rotates, turns, moves, flows … 

Das auf Anhieb beste Ergebnis spuckt der Google-Übersetzer aus:

In a cool valley,
There turns a mill wheel

Mit einer Portion semantischem Weltwissen und sorgfältiger Nachredaktion kann man damit halbwegs arbeiten. Aber mit eigener Übersetzungsleistung käme man vermutlich schneller auf passable Lösungen.

Nun interessiert natürlich, wie die literarischen Humanübersetzer:innen die Aufgabe gemeistert haben? Hier drei Beispiele aus dem Netz: 

William Ruleman (Poems for the Ages, 2019) ersetzt Eichendorffs Kreuzreime durch Paarreime. Auch das vorangestellt Verb in der zweite Zeile und die Entscheidung für vale unterstreicht die poetische Tonlage und weckt romantische Assoziationen (vergleichbar mit Deutschen Begriffen wie Aue oder Hain): 

Tia Caswell (Journal of Languages, Texts, and Society, Vol. 5 [2021], 5) weist in ihrem Kommentar darauf hin, dass es wie bei anderen Übertragungen auch bei diesem Eichendorff-Gedicht nicht möglich war, das Reimschema des Originals beizubehalten:

Charles L. Cingolani (2024) verzichtet ebenfalls auf Reime. Dass hier aus dem beschaulichen Wiesen- oder Talgrund einfach ein Stück Land, wenn nicht gar ein Grundstück wird, stört die ländliche Idylle und will nicht so recht ins romantische Bild passen. Mit dem Humanübersetzer liesse sich aber bestimmt über semantische Feinheiten und Konnotationen diskutieren.

Dieter E. Zimmers schlimmste Befürchtungen sind zwar nicht eingetreten, aber wie man sieht, haben die Übersetzungsmaschinen mächtig zugelegt und täuschen sprachliche Kompetenz vor – weshalb ich lieber von simulierter als von künstlicher Intelligenz spreche. Damion Searls hat sich jüngst in seiner Philosophy of Translation (2024) ebenfalls zur KI-Problematik geäussert. Seinem Fazit können wir uns hier anschliessen: Ein Text, der durch die KI-Übersetzung gejagt wurde, muss immer noch übersetzt werden.

Daniel Ammann, 15.7.2025



Searls, Damion. The Philosophy of Translation. New Haven, CT: Yale University Press, 2024. 

Zimmer, Dieter E. «Wettbewerb der Übersetzer: Die einstweilige Unentbehrlichkeit des Humantranslators.» Redens Arten: Über Trends und Tollheiten im neudeutschen Sprachgebrauch. Zürich: Haffmans, 1988 (1986). S. 163–187.

Bartleby mag einfach nicht

Bartleby mag einfach nicht

Vor ein paar Jahren, vermutlich 2018, spielte ich mit dem Gedanken, Herman Melvilles Meistererzählung «Bartley, the Scrivener» ins Deutsche zu übertragen. Nicht als Erster natürlich, aber es wäre ein gute Übung, um literatur- und sprachwissenschaftlich in Schwung zu bleiben. Man liest ja nie genauer, als wenn man einen Text Satz für Satz in eine andere Sprache transportiert. Bekanntlich geht es dabei nicht nur um die inhaltliche Fuhre semantische Präzision und ein zeitge­mässes Register. Man möchte vor allem die passende Atmosphäre schaffen, den Ton zu treffen und dem Stil des Ausgangs­textes gerecht werden. Also ein waghalsiges Spiel, bei dem es sprachlich und literarisch zur Sache und dem Übersetzer oder der Übersetzerin an den Kragen geht, sollte das Unterfangen missglücken. 1

Aus ebendiesen Gründen macht es aber auch unendlichen Spass, über linguistische Feinheiten und kalauernde Grobheiten nachzudenken und mit Gleichgesinnten zu diskutieren, wie wir das monatlich am Zürcher Übersetzer:innen-Treffem unter Ulrich Blumenbachs Leitung in der James-Joyce-Stifung praktizieren . Manchmal fördert das Schwarm­denken überraschend eine mehrheits­fähige Lösung zutage, dann wieder verzetteln wir uns gehörig und kommen zu keiner Einigung. Die Übersetzer:innen, die eine Knacknuss mitgebracht haben, gehen mit nützlichen Anregungen nach Hause, auch wenn die seligmachende Variante oft noch nicht gefunden ist. Fast schlimmer: Sie müssen sich für eine von mehreren genialen Lösungen entscheiden – und das Feuilleton urteilt dann selbstgerecht, sie seien zu weit oder doch nicht weit genug gegangen, hätten sich falsch entschieden, zu viel Mut oder zu wenig Experise bewiesen. Da mag der eine oder die andere sich die Haare raufen und wünschen, man hätte den Auftrag erst gar nicht bekommen oder ihn mit Bartebys Worten ausgeschlagen.2

Herman Melvilles Meistererzählung «Bartleby, the Scrivener» wurde bereits über ein dutzend mal ins Deutsche übersetzt – als «Bartleby», «Der Schreiber Bartleby», «Bartleby, der Schreibgehilfe», «Bartleby der Lohnschreiber», meistens jedoch unter dem Titel «Bartley, der Schreiber».
Auch der erste Satz – «I am a rather elderly man» – zeigt wieder einmal, wie viele Varianten möglich sind. Hier ein paar Kostproben, welchen Ton die bisherigen Übersetzungen anschlagen:

Als Erstes fällt vielleicht auf, dass die Erstübersetzung von Karl Lerbs sowie die jüngste Übertragung durch Karl-Heinz Ott sich für «nicht mehr der Jüngste» entscheiden. Das wäre auch mein Favorit gewesen. Die Formulierung trifft es idiomatisch, obgleich sie etwas frischer als Melvilles «rather elderly» klingt. Der Ich-Erzähler, der eine Anwalts­kanzlei leitet, geht auf die sechzig zu und ist, wie er uns eingangs wissen lässt, seit über dreissig Jahren im Geschäft. Da hat er wohl schon viel gesehen und ist nicht leicht aus der Ruhe zu bringen. Aber – und was wäre das für eine Geschichte, wenn es kein Aber gäbe – trotz beruflicher Routine und reichlich Lebens­erfahrung ist er nicht vor Überraschungen gefeit. Ein neuer Kopist, der allersonderbarste Schreiber, der dem Ich-Erzähler je begegnet ist, betritt die Bühne der Kanzlei. Mit mit seiner widerborstigen Sanftmut versetzt er die geordnete Welt des Notars in Aufruhr – und das, ohne auch nur einen Finger zu rühren.

Daniel Ammann, 1.5.2025

  1. Es gibt noch zwei private Gründe, warum diese Geschichte mir am Herzen liegt: Zum einen arbeite ich seit langem schon mit der Textverarbeitung Scrivener, zum anderen hat die Kanzleiatmosphäre des Melville-Klassikers und sein kauziger Antiheld für eine meiner eigenen Geschichten Pate gestanden und mich kreativ inspiriert. ↩︎
  2. «I would prefer not to.» – Auch dieser formelhafte Satz wird auf unterschiedliche Weise ins Deutsch gebracht: 
    «Ich möchte lieber nicht.» (Karl-Heinz Ott, Jürgen Krug, Karlernst Ziem, Elisabeth Schnack, Karl Lerbs)
    «Es ist mir eigentlich nicht genehm.» (Michael Walter)
    «Ich würde vorziehen, es nicht zu tun.» (Richard Mummendey)
    «Eigentlich möchte ich nicht.» (Marianne Graefe). ↩︎
Bartleby mag einfach nicht

Herman Melville
Bartleby, der Schreiber. Eine Geschichte aus der Wall Street.
Aus dem amerikanischen Englisch und mit einem Essay von Karl-Heinz Ott.
Zürich: Kampa, 2025. 125 Seiten.

Moby-Dick

Moby-Dick

Hier kommt er nun, der Gigant der Welteere und sein geheimnisvoller Erzähler, von dem wir nicht viel mehr als den Vornamen erfahren – und die Tatsache, dass er zur See fährt, um seiner dunklen Depression zu entfliehen: «whenever it is a damp, drizzly November in my soul». Es ist sein «Ersatz für Pistole und Kugel».

Um ein Buch von Rang zu schaffen, müsst ihr euch ein Thema von Rang erwählen. Kein grosser und überdauernder Band läst sich jemals über den Floh schreiben, obwohl’s etliche gibt, welche es versucht haben. 
(in der Übersetzung von Friedhelm Rathjen)

Anders als 1719 bei Daniel Defoe, dessen Robinson Crusoe seinem Namen und seiner Herkunft eingangs einen ganzen Absatz widmet, und im Unterschied zu Edgar Allen Poe, dessen Titelheld und Ich-Erzähler sich 1838 im ersten Satz gleich mit «Mein Name ist Arthur Gordon Pym» vorstellt, macht Herman Melvilles Seemann eine klare Ansage: «Call me Ishmael.»1

Die resolute Eröffnung klingt wie eine Anweisung2 oder versteht sich als verbindliche Einladung, ihn bei diesem Namen zu nennen. Als wollte er sagen: Hier bin ich, hört mir zu! Ob er tatsächlicher so heisst, erfahren wir nicht. Oder wie Margaret Atwood auf die Frage nach ihrem Lieblingsanfang sagte: «Three words. Power-packed. Why Ishmael? It’s not his real name. Who’s he speaking to? Eh?» Ihre Begeisterung für Melvilles Meisterwerk ist ungebrochen. Moby-Dick müsse sie immer wieder lesen, denn es sei ein Roman, der für sie «alle zehn Jahre einen neuen Sinn erhält».

Den vollen Namen des Matrosen erfahren wir auch auf den folgenden 600 Buchseiten nicht. Ebenso lässt der erste Satz offen, an wen er sich richtet. Sind wir als einzelne Leser:innen («Nenne mich Ishmael») gemeint oder wird ein Kollektiv («Nennt mich Ishmael») angesprochen? Hier müssen die deutschen Übersetzer:innen Farbe bekennen.3 Oder gibt es, wie bei Joseph Conrad,  im Textuniversum eine Figur oder eine Gruppe, die der Erzähler direkt adressiert. Es könnte sich sogar um einen aussertextlichen oder extradiegetischen Briefempfänger handeln, eine reale oder imaginierte Person, einen Geist oder künftige Leser:innen, die diesen Text dank einer Flaschenpost in die Finger bekommen und sich selber einen Reim drauf machen müssen.

Daniel Ammann, 16.4.2025, aktualisiert 1.6.2025

  1. Philip Roth macht es dem grossen Melville in seinem Roman The Great American Novel nach und beginnt mit ironischer Brechung: «Call me Smitty. That’s what everybody else called me— […].» ↩︎
  2. Vgl. «Weiter sprach der Engel des HERRN zu ihr [Hagar]: Siehe, du bist schwanger geworden und wirst einen Sohn gebären, dessen Namen sollst du Ismael nennen;» (Lutherbibel, Genesjs 16,11) ↩︎
  3. Die meisten Übersetzer:innen entscheiden sich für die Plural-Variante, zum Beispiel Tatjana Grass, Matthias Jendis, Richard Mummendey, Thesi Mutzenbecher & Ernst Schnabel, Friedhelm Rathjen, Alice und Hans Seiffert. ↩︎
Magoria by Daniel Ammann