Tiny Tales

Tiny Tales sind Kürzestgeschichten. Manchmal bestehen sie nur aus fünf oder sechs Worten, wie die Hemingway zugeschriebene Mikrogeschichte: «For sale, baby shoes, never worn» (vgl. auch den Film Papa: Hemingway in Cuba von Regieur Bob Yari. USA 2015). Andere Beispiele firmieren unter dem Begriff Twitteratur, wie die gleichnamige Sammlung von Alexander Aciman und Emmett Rensing. Berühmte Werke der Weltliteratur werden jeweils in einer Serie von Tweets parodistisch nacherzählt (Sanssouci bei Hanser 2011). Anna Karenina setzt so an: «Meine Schwägerin verlangt die Scheidung. Ich muss nach Moskau, den Unsinn stoppen. Vielleicht steigen nebenbei ein paar gute Partys.» Und was könnte das wohl sein?: «Meine Schwester ist unerträglich! Und ihr Mann erst, so ein Waschlappen. Ich muss hier weg, raus ins Marschland.» Etwas einfacher ist es hiermit: «Nennt mich Ismael. Ihr könntet mich auch anders nennen, aber da ich nun mal so heisse, wäre es doch sinnvoll, wenn ihr mich Ismael nennt.»

Auf Twitter und in Buchform hat sich auch der Werber Florian Meimberg der beliebten Kurzform angenommen. Unter dem Titel Auf die Länge kommt es an (Fischer 2011) präsentiert er seine skurrile Tiny Tales und fasst sie Kapitelweise unter Begriffen wie Chaos, Angst, Überraschung oder Tod . Unter dem Stichwort Glück wird Folgendes berichtet: «Er starrte auf das kürzere Streichholz. Verloren. Schnee wehte durch das Flugzeugwrack, als der zweite Überlebende das Messer ansetzte.»

Für den New Yorker hat die Schriftstellerin Jennifer Egan vom 4. und 11. Juni 2012 sogar einen ganzen Roman getwittert: Black Box. Die deutsche Ausgabe ist in der Übersetzung von Brigitte Walitzek bei Schöffling (2013) erschienen.

Oft sind die Kürzestgeschichten wie explosive erste Sätze, die schon den ganzen Roman enthalten. Oder in meinem Fall ein Märchen, das mit den Konventionen des Märchens bricht. Eine postmoderne Tiny Fairy Tale.

Auf Zerstreuung fokussiert

Heute kann man sich Programme wie «SelfControl» auf dem Compu­ter installieren, um für eine definierte Zeitspanne nicht gestört zu werden. Der Produktivität steht dann fast nichts mehr im Weg. Gegen die lauten Nachbarn, Musik aus dem Nebenzimmer, Kindergeschrei vor dem Haus, hupende Autos und bellende Hunde setzt man sich einfach noch den teuren Kopfhörer mit «Noise-Cancelling-Technologie» auf. Noch ein letztes Mal kratzen, wo es juckt, Nase und Brille putzen. Auf dem Klo war ich schon, und ein Glas frisches Wasser oder eine Tasse Kaffee steht ebenfalls bereit.

Gleich geht’s los.

Das Schreibprogramm wird im Vollbild-Schreibmodus geöffnet. Die erste Idee wartet schon hinter der Ecke. Sie traut sich erst hervor, wenn ich wirklich ganz und gar bereit bin. Zur heiteren Auflockerung schreibe ich schon mal den Satzanfang «A Saturday afternoon in November was approaching …» (und denke an den Monty-Python-Sketch «Novel Writing»).

Gut. Nun sind alle Hindernisse aus dem Weg geräumt. Oder habe ich noch etwas vergessen? Irgendwie will es doch nicht recht. Da ist noch diese innere Unruhe, für die es keinen Ein/Aus-Schalter gibt. «SelfControl» ist auf zwei Stunden programmiert. Da hilft auch kein Neustart. Ich könnte mich so lange aufs Ohr legen. Oder ein Buch lesen. Nein, ich will und muss jetzt produktiv sein.

Nach einer halben Stunde greife ich mir mein schwarzes Notizbuch, setze mich unten ins lärmige Café … und kann endlich schreiben. Oder besser noch: Ich hebe mir das für später auf, damit ich etwas habe, worauf ich mich freuen kann, wenn ich wieder zu Hause bin. – Vielleicht schreibe ich einen Mediensplitter zum Thema Prokrastination.

Aber es eilt ja nicht … Morgen ist auch noch ein Tag.

Magoria by Daniel Ammann