Gebrochene Gebote #4 – Keine unvollständigen Sätze!

Unvollständige Sätze?
Riesenproblem. Wenn nicht Katastrophe. Weil meist unverständlich. Bringt also nichts.
Nur so als Beispiel: Verb fehlt. Selten vielleicht. Kommt aber vor. Deshalb Vorsicht!
Alles klar? Dann los.

Ich sage nur: Mynheer Peeperkorn aus Thomas Manns Zauberberg

«Meine Herrschaften. – Gut. Alles gut. Er–ledigt. Wollen Sie jedoch ins Auge fassen und nicht – keinen Augenblick – ausser acht lassen, dass – Doch über diesen Punkt nichts weiter. Was auszusprechen mir obliegt, ist weniger jenes, als vor allem und einzig dies, dass wir verpflichtet sind, – dass der unverbrüchliche – ich wiederhole und lege alle Betonung auf diesen Ausdruck – der unverbrüchliche Anspruch an uns gestellt ist – – Nein! Nein, meine Herrschaften, nicht so! Nicht so, daß ich etwa – Wie weit gefehlt wäre es, zu denken, dass ich – – Er–ledigt, meine Herrschaften! Vollkommen erledigt. Ich weiss uns einig in alldem, und so denn: zur Sache!»

Gebrochene Gebote #3 – Finger weg von Klischees!

Was soll man über Klischees sagen, das nicht schon tausendfach gesagt wurde? Am besten wir machen einen weiten Bogen um sie, meiden sie wie die Pest und lassen ein für allemal die Hände davon, bevor wir uns noch die Finger verbrennen. Natürlich ist das leichter gesagt als getan. Guter Rat ist also teuer. Doch last but not least hat eben alles immer zwei Seiten, nicht nur die berühmte Medaille.

Klischees können zwar ins Auge gehen, aber zum Glück haben wir ein lachendes und ein weinendes. Deshalb Schwamm drüber. Drücken wir ein Auge zu. Es ist ja noch nicht aller Tage Abend, und man muss auch mal fünf gerade sein lassen. Wie heisst es so schön? Eine Hand wäscht die andere, man darf sich nur nicht einseifen lassen.

Gebrochene Gebote #2 – K. Abk. u. Sonderz.

Nach den Alliterationen geht des nun den Abkürzungen an den Kragen.

Zeit und Druckerschwärze, die wir beim Schreiben mit Abkürzungen sparen, können den Text sperrig oder unzugänglich machen. Lesen wird zum Hindernislauf. Also Finger weg von Abkürzungen und Sonderzeichen!

#2 Verf. usw. sollten allg. auf Abk. u. dgl. verzichten & Et-Zeichen o. Ä. meiden.

Auch hier finden sich in der Literatur Zuwiderhandlungen. Das fängt schon im 18. Jh. b. Laurence Sterne und seinem Tristram Shandy an:
«&c. &c.—und dergleichen mehr :—», wie es z.B. i. d. trefflichen Übers. v. Michael Walter heisst.

Und was Arno Schmidt in Zettels Traum mit mit Sonderzeichen und Auslassungen anstellt, ist kaum zu überbieten:

(? –) : »Ganz=winzij’n Moment nur … (: dreh langsam, 1 Mal, den Kopf in die Wunder einer anderen AtmoSfäre … (?) – : nu, ne Sonne von GoldPapier, mit roth’n Bakkn et=caetera ?)) – : verfolg ma das WasserlinsnBlättchin, Franziska=ja ? – (?) – : Ganz=recht; (Ch kuck aufdii Uhr). –«; (und knien; am WegeGrabm, zu Anfang des Schauerfeld’s) : »Ch wollt die StrömungsGeschwindichkeit ma wissn : Wir habm Zeit, individuell zu sein, gelt Fränzi?« « (Und erneut zu W, /

Anm.: Aber warten wir mal ab, was SMS-Texte und Twitter-Romane noch an typografischen Tändeleien für uns bereithalten :))


Schmidt, Arno. Zettel’s Traum. Ein Lesebuch. Herausgegeben von Bernd Rauschenbach. Mit einführenden Texten von Susanne Fischer. Berlin: Suhrkamp, 2020.

Sterne, Laurence. Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman. Neu übers. v. Michael Walter. Zürich: Haffmans, 1983–1991. 

Gebrochene Gebote #1 – Alliteration

An Empfehlungen für gute Texte fehlt es nicht. Wie bei Kurt Tucholskys «Ratschlägen für einen schlechten Redner» macht die Sache aber mit Ironie und Widerspruch erst Spass. In seiner Kolumne «On Language» hat William Safire 1979 im New York Times Magazine 36 «Fumblerules of Grammar» aufgestellt und dem Thema später ein ganzes Buch gewidmet. Hier sieben Kostproben seiner «ungeschickten Grammatikregeln» (in der Übersetzung von Oskar Rauch):

«Keine Halbsätze.»
«Seien Sie sparsam mit Ausrufezeichen!!!»
«Lesen Sie sorgfältig Korrektur, um sicherzugehen, dass keine Wörter ausgelassen haben.»
«Hände hoch vor falschen Redewendungen.»
«Variieren Sie bei der Wortwahl, denn Varianten sorgen für Variation.»
«Packen Sie den Stier bei der Hand, die ihn füttert, und vermeiden Sie es, Redewendungen zu mischen.»
«Vermeiden Sie Zitate. Wie sagt schon Ralph Waldo Emerson: ‹Ich hasse Zitate. Sagen Sie mir lieber, was Sie selbst wissen.›»

(Quelle: Usher 2015, 189–191)

In der Juni-Ausgabe 1986 von Writer’s Digest legt Frank L. Visco eine ähnliche Liste vor, die in unterschiedlichen Versionen im Netz kursiert.
In (geplanten) zehn Beirägen will ich mich aus diesem reichen Schatz selbstironischer Regeln bedienen und meine Version jeweils durch ungehorsame Beispiele aus der Literatur ergänzen. Eine Regel für Autorinnen und Autoren lautet ja: Kenne die Regeln und brich sie.

Den Anfang macht der Anreim:

#1 Allen Alliterationen abschwören. Ausnahmslos.

Keine Ahnung, warum der gute alte Stabreim in Ungnade gefallen ist. Ich schätze ihn über alles.
Wirkt der deutsche Titel Drachen, Doppelgänger und Dämonen von Oliver Sacks’ Buch Hallucinations nicht passender und weniger prosaisch als das Original? Oder nehmen wir den rhythmisch-stabreimenden letzten Satz aus F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby: «So we beat on, boats against the current, borne back ceaselessly into the past.» Auch Truman Capote schliesst seinen Tatsachenroman Kaltblütig mit einem kraftvoll alliterativem Schlusssatz: «Dann machte er sich auf den Heimweg, unter den Bäumen hindurch, und liess den weiten Himmel hinter sich, das Wispern des Windes im wogenden Weizen.»

Walter Abish baut in seinem Roman Alphabetical Africa sein erstes Kapitel sogar ausschliesslich aus Wörtern mit A: «Abermals Afrika: Als Albert ankommt, angeregt argumentiert, afrikanische Ausstellungskunst abhandelt, an afrikanischer Angst auseinandersetzt, aber auch, ach, ausgerechnet Ashanti-Architektur angreift …» (Lodge 1998, 157).

Bewusst eingesetzt treten Alliterationen akzentuiert gegen Alltagsgelaber an und vermögen Absätze ausdrucksmächtig aufzuladen.

Postscriptum:
Die Verlockung war zu gross. So habe ich selbst den Versuch unternommen, eine alliterative Geschichte als Tautogramm zu verfassen: «Adeles Aufstieg». Sie umfasst 430 Wörter und beginnt so:

Adele Abderhalden, Adoptivtochter alteingesessener Apotheker aus Affoltern am Albis, arbeitet Anfang Achtzigerjahre aushilfsweise als Aupairmädchen aristokratischer Aargauer. Angenehme Aufgaben. Ausserdem allerhand Annehmlichkeiten: aparte Attikawohnung, Auto auf Abruf, allabendlicher Ausgang. Andererseits auch aufreibend. Arbeitgeber ausgesprochen angetan, aber arrogant. Aufgrund altertümlicher Auffassungen Adeles adrettes Aussehen als Aufforderung ausgelegt – also andauernde Anmache, Anzüglichkeiten aller Art, auch anstössige Anspielungen auf Adeles aufreizenden A…


Abish, Walter. Alphabetical Africa / Alphabetisches Afrika. Amerikanisch und Deutsch. Übersetzt von Jürg Laederach. Schupfart: Engeler Verlag, 2002. 

Capote, Truman. Kaltblütig: Wahrheitsgemässer Bericht über einen mehrfachen Mord und seine Folgen. Aus dem Amerikanischen von Thomas Mohr. Hrsg. v. Anuschka Roshani. Zürich: Kein & Aber, 2007. 

Lodge, David. Die Kunst des Erzählens. Illustriert anhand von Beispielen aus klassischen und modernen Texten. Aus dem Englischen von Daniel Ammann. Zürich: Haffmans, 1993. / München u. Zürich: Diana (Heyne), 1998. 

Sacks, Oliver. Drachen, Doppelgänger und Dämonen: Über Menschen mit Halluzinationen. Aus dem Englischen von Hainer Kober. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2013.
Kurzrezension «Wenn das Gehirn die Wirklichkeit manipuliert.» in ph akzente 2 (2013): S. 30. 

Usher, Shaun, Hrsg. Lists of Note: Aufzeichnungen, die die Welt bedeuten. München: Heyne, 2015.
Kurzrezension «Bemerkenswerte Listen.» in ph akzente 1 (2016): S. 34. 

Magoria by Daniel Ammann