Moby-Dick

Moby-Dick

Hier kommt er nun, der Gigant der Welteere und sein geheimnisvoller Erzähler, von dem wir nicht viel mehr als den Vornamen erfahren – und die Tatsache, dass er zur See fährt, um seiner dunklen Depression zu entfliehen: «whenever it is a damp, drizzly November in my soul». Es ist sein «Ersatz für Pistole und Kugel».

Um ein Buch von Rang zu schaffen, müsst ihr euch ein Thema von Rang erwählen. Kein grosser und überdauernder Band läst sich jemals über den Floh schreiben, obwohl’s etliche gibt, welche es versucht haben. 
(in der Übersetzung von Friedhelm Rathjen)

Anders als 1719 bei Daniel Defoe, dessen Robinson Crusoe seinem Namen und seiner Herkunft eingangs einen ganzen Absatz widmet, und im Unterschied zu Edgar Allen Poe, dessen Titelheld und Ich-Erzähler sich 1838 im ersten Satz gleich mit «Mein Name ist Arthur Gordon Pym» vorstellt, macht Herman Melvilles Seemann eine klare Ansage: «Call me Ishmael.»

Die resolute Eröffnung klingt wie eine Anweisung1 oder versteht sich als verbindliche Einladung, ihn bei diesem Namen zu nennen. Als wollte er sagen: Hier bin ich, hört mir zu! Ob er tatsächlicher so heisst, erfahren wir nicht. Oder wie Margaret Atwood auf die Frage nach ihrem Lieblingsanfang sagte: «Three words. Power-packed. Why Ishmael? It’s not his real name. Who’s he speaking to? Eh?» Ihre Begeisterung für Melvilles Meisterwerk ist ungebrochen. Moby-Dick müsse sie immer wieder lesen, denn es sei ein Roman, der für sie «alle zehn Jahre einen neuen Sinn erhält».

Den vollen Namen des Matrosen erfahren wir auch auf den folgenden 600 Buchseiten nicht. Ebenso lässt der erste Satz offen, an wen er sich richtet. Sind wir als einzelne Leser:innen («Nenne mich Ishmael») gemeint oder wird ein Kollektiv («Nennt mich Ishmael») angesprochen? Hier müssen die deutschen Übersetzer:innen Farbe bekennen.2 Oder gibt es, wie bei Joseph Conrad,  im Textuniversum eine Figur oder eine Gruppe, die der Erzähler direkt adressiert. Es könnte sich sogar um einen aussertextlichen oder extradiegetischen Briefempfänger handeln, eine reale oder imaginierte Person, einen Geist oder künftige Leser:innen, die diesen Text dank einer Flaschenpost in die Finger bekommen und sich selber einen Reim drauf machen müssen.

Daniel Ammann, 16.4.2025

  1. Vgl. «Weiter sprach der Engel des HERRN zu ihr [Hagar]: Siehe, du bist schwanger geworden und wirst einen Sohn gebären, dessen Namen sollst du Ismael nennen;» (Lutherbibel, Genesjs 16,11) ↩︎
  2. Die meisten Übersetzer:innen entscheiden sich für die Plural-Variante, zum Beispiel Tatjana Grass, Matthias Jendis, Richard Mummendey, Thesi Mutzenbecher & Ernst Schnabel, Friedhelm Rathjen, Alice und Hans Seiffert. ↩︎

McEwan zieht Dickens vor Gericht

McEwan zieht Dickens vor Gericht
McEwan zieht Dickens vor Gericht

In Episode 3 meiner Rubrik «Zwillingsanfänge» kommt noch einmal Ian McEwan zum Zug.
Seine Protagonistin Fiona Maye – in der Filmadaption nach McEwans Drehbuch von Emma Thompson verkörpert – ist eine angesehene Richterin am High Court in London. In einem dringenden Fall soll sie über das Schicksal eines 17-Jährigen entscheiden, der an Leukämie leidet, dessen Familie jedoch aus religiösen Gründen eine Bluttransfusion ablehnt.

McEwans Romananfang lehnt sich an den Beginn des grossen Dickens-Romans «Bleak House» an. Auch hier geht es um Gerichtsbarkeit. Undurchdringlich dicht wie der Londoner Nebel zu Beginn des Romans ist der sich jahrelang hinziehende Erbschaftsprozess im Fall Jarndyce gegen Jarndyce.

Der übergrosse Gatsby

Der übergrosse Gatsby

«Natürlich ist es die Stimme des Erzählers, die einen lockt und verführt und deren Klang zugleich schon die Belohnung ist», schreibt Claudius Seidl im Nachwort zur aktuellen Neuübersetzung von F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby. Bereits Baz Luhrmann hat in seiner Filmadaption von 2013 auf diese Stimme gesetzt.

Der Film beginnt im Voice-over mit dem Anfang des Romans und führt Nick Carraway (Tobey Maguire) als traumatisierten Erzähler und Schriftsteller ein. Am Ende liegt seine Geschichte mit dem Titel «Gatsby» als fertiges Typoskript auf dem Tisch. Einer letzten Eingebung folgend fügt er auf dem Titelblatt von Hand zwei weitere Worte hinzu und macht daraus «The Great Gatsby».1

Der übergrosse Gatsby

Der erste Satz und Absatz des Romans ist natürlich nur der halbe Anfang, denn man möchte schon erfahren, worin der väterliche Rat besteht … und ob Nick diesen später tatsächlich beherzigt.


«Wenn du meinst, jemanden kritisieren zu müssen», sagte er, «so denk daran, dass nicht alle Menschen auf der Welt dieselben Vorteile hatten wie du.»

Die deutsche Synchronfassung, die sich im Übrigen an Bettina Abarbanells Übersetzung von 2006 orientiert, formuliert hier viel expliziter als die Romanvorlage und rückt damit den inneren Konflikt, wenn nicht gar das Scheitern der Erzählfigur in den Vordergrund: «Versuche stets das Beste in den Menschen zu sehen», zitiert Nick seinen Vater. «Folglich neigte ich dazu, mich mit allem Urteil zurückzuhalten. Doch selbst ich habe meine Grenzen.»

Da Nick Carraway von seinen «jüngeren und empfindsameren Jahren» spricht, dürfen wir davon ausgehen, dass er wie viele autobiografisch anmutende Erzählungen à la David Copperfield oder Der Name der Rose aus zeitlicher Distanz, um Erfahrungen reicher, vielleicht sogar geläutert auf seine Erfahrungen zurückschaut. Der Einstieg hat etwas Bekenntnishaftes und lässt vermuten, dass wir es mit einer morali­schen Geschichte zu tun bekommen.

Erste Sätze – letzte Sätze

Berühmter als der Anfang des Grossen Gatsby ist hingegen der letzte Satz, der wie ein Schlussakkord nachhallt.  Er ziert sogar die Grabplatte auf dem Friedhof von Rockville, Maryland, wo Francis Scott Key Fitzgerald und dessen Frau Zelda Sayre ihre letzte Ruhe gefunden haben. 

The grave of F. Scott Fitzgeraldd and Zelda Fitzgerald, St. Mary’s Catholic Cemetery in Rockville, Maryland. 

Auch Baz Luhrmann weiss die poetische Kraft dieser letzten Worte zu nutzen und blendet die Textzeilen am Schluss im Bild mit dem symboli­schen grünen Licht ein:

Zu den breits vorliegenden deutschen Übersetzungen ist nun mit der Jubiläumsausgabe bei Manesse eine weitere hinzugekommen. Wie Thomas Hermann 2013 in einem früheren NZZ-Artikel über Fitzgerald und Hemingway empfiehlt, lohnt es sich, angesichts der Übersetzungs­vielfalt den letzten Satz in seinen deutschen Varianten zu vergleichen.

In der ZDF-Sendung «Das Literarische Quartett» vom 21.3.2025 betont Eva Menasse, dass Bernhard Robben auch den fast unübersetzbaren letzten Satz elegant übertragen habe. Dem schliesse ich mich gern an, möchte aber wie Thomas Hermann nicht versäumen, Walter Schürenbergs frühen Versuch zu würdigen, Fitzgeralds eingängige Alliteration ins Deutsche zu tragen.

Daniel Ammann, 23.3.2025, aktualisiert 8.4.2025


F. Scott Fitzgerald
Der grosse Gatsby.
Kommentierte Jubiläumsausgabe mit Korrespondenzen, Rezensionen und einer 100-Jahre-Gatsby-Zeittafel.
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Bernhard Robben. Herausgegeben und kommentiert von Horst Lauinger. Mit einem Nachwort von Claudius Seidl.
München: Manesse, 2025. 352 Seiten.

F. Scott Fitzgerald
Der grosse Gatsby.
Aus dem amerikanischen Englisch von Maria Lazar. Bearbeitet und mit Anmerkungen versehen von Heiko Arntz. Mit dem Vorwort des Autors zur Neuausgabe des Romans von 1934 [in der Übersetzung von Hans-Christian Oeser und einem Nachwort von Daniel Kampa. Zürich: Kampa, 2025. 293 Seiten.

  1. F. Scott Fitzgerald hält in einem Brief vom 24. Januar 1925 an seinen Lektor Max Perkins im PS fest:
    «Alles okay, nur sagt mir mein Herz, ich hätte das Buch Trimalchio nennen sollen. Gegen den allgemeinen Rat wäre das allerdings wohl bloss dumm und trotzig von mir gewesen. Trimalchio in West-Egg war nur ein Kompromiss. Gatsby klingt so nach Babbitt, und Der grosse Gatsby ist ein schwacher Titel, weil er die Grösse – oder deren Fehlen – nicht akzentuiert, nicht einmal ironisch. Aber wie auch immer, belassen wir es dabei» (Fitzgerald 2025, 211). ↩︎
  2. Der erste Satz wird unverändert übernommen. ↩︎

Der Mann, der Weihnachten erfand

Der Mann, der Weihnachten erfand

The Man Who Invented Christmas lautet der Titel eines vergnüglich-skurrilen Biopics über Charles Dickens und die Entstehung seiner weihnächtlichen Gespenster­geschichte «A Christmas Carol» (1843) – auf Deutsch unter anderem bekannt als «Eine Weihnachts­geschichte», «Ein Weih­nachts­lied in Prosa», «Der Weih­nachts­abend» oder «Ein Weih­­nachts­märchen». 

What’s in a name?

Auch wenn Anfänge wichtig sind und so manche Erzählung ihre Existenz einem genialen ersten Satz verdankt – Bharat Nalluris Spielfilm aus dem Jahr 2017 erzählt eine andere Geschichte. Nach mehreren Fehlschlägen und finanziell in Bedrängnis braucht der unnachahmliche Charles Dickens (Dan Stevens) unbedingt einen literarischen Erfolg. Den schreibt er tatsächlich, aber richtig loslegen kann er erst, wenn die Protagonisten auf den Plan treten. Zunächst hat er nur einen Titel und eine vage Vorstellung. Damit die Geschichte in seiner Imagination aber Gestalt annimmt, braucht er lebendige Gestalten. «You get the name right and then – if you’re lucky – the character will appear.» Dickens probiert verschiedene Varianten aus. Scratch? Scrounger? … Screwpull … Scrabbly … scr—rrrr—aahhh— chh … aahhh. Mr …. Scrimple! – Als er schliesslich «Scrooge!» ausruft, fährt ein Windstoss durch den Raum und Ebenezer Scrooge (Christopher Plummer) betritt leibhaftig die Bühne.

Der Mann, der Weihnachten erfand

Mit einem Knalleffekt beginnt auch Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte: «Marley was dead: to begin with.» Ein Hammerschlag, der leicht nachfedert. An Kürze und Eindringlichkeit kaum zu überbieten. Zwei Mal drei Wörter. Das klingt wie eine Beschwörungsformel. Noch wissen wir nicht, was uns hier erwartet. Eine Weihnachts­geschichte, die nicht mit einer Geburt, sondern mit einer Leiche beginnt, weckt unsere Aufmerksamkeit. Ist das eine kriminalistische Moritat? Oder eine unheilige Geistergeschichte, wie Dickens im Untertitel warnt? A Christmas Carol in Prose: Being A Ghost-Story of Christmas.

Marley war tot – so what?

Ein Blick auf die überaus zahlreichen Übertragungen macht deutlich, dass einfache Sätze nicht einfacher zu übersetzen sind. Ein gutes Dutzend Versionen habe ich zum Vergleich zusammengetragen. Der erste Teil scheint den Übersetzer:innen kaum Probleme zu bereiten: «Marley war tot.» Darin sind sich die meisten einig. Die Varianten beschränken sich vornehmlich darauf, ob danach ein Punkt, ein Doppelpunkt oder ein Strichpunkt folgt.

Marley war tot, so viel muss ich vorausschicken. (Julius Seybt, 1877)
Marley war tot, damit wollen wir anfangen. (Richard Zoozmann, 1909)
Marley war tot, das gleich zu Anfang. (Margit Meyer 1979)
Marley war tot: Das muss ich vorausschicken. (Sybil Gräfin Schönfeldt, 1993)
Marley war tot. So geht’s schon mal los. (Volker Kriegel, 1994)
Marley war tot, so viel vorab. (Melanie Walz, 2011)
Marley war tot; dies gleich zu Anfang. (Britta Mümmler, 2011)
Marley war tot; dies zu Beginn. (Eike Schönfeld, 2014)
Marley war tot, so viel vorweg. (Gundula Müller-Wallraf, 2017)
Marley war tot, dies gleich vorneweg. (Hans-Christian Oeser, 2022)

Zwei Beispiele scheren hingegen aus und verpassen dem ersten Satz einen syntaktischen Dreh, indem sie leise beginnen und dann mit gewaltiger Wucht den Nagel einschlagen.

Zunächst einmal: Marley war tot. (Trude Fein, 1978)

Um es gleich vorauszuschicken: Marley war tot. (Isabelle Fuchs, 2007)

 Der alte Marley war so tot wie ein Türnagel, heisst es weiter, und der Erzähler hält kurz inne, um darüber zu räsonieren, was an einem Türnagel so ausserordentlich tot sein soll und ob in diesem Fall ein Sargnagel nicht die bessere Wahl wäre.

Bei Dickens und den Übersetzungen, die seinem Beispiel folgen, steckt der übersetzerische Stachel im zweiten Satzteil. Einige Übersetzer:innen lassen den Hammerschlag langsam ausklingen, um dann neu anzusetzen: «Das muss ich vorausschicken» oder «So geht’s schon mal los». Andere versuchen es dem grossen Meister gleichzutun und entscheiden sich ebenfalls für drei kurze Wörter wie «dies zu Beginn», «so viel vorab» oder «dies gleich vorneweg». Ich möchte mich gern hier einreihen und schlage drei Wörter und vier Silben vor: Marley war tot – damit fängt’s an.

Wie würden Sie beginnen?

Daniel Ammann, 12.2.2025


Siehe auch:

Wackelkontakt und Metalepse

Wackelkontakt und Metalepse

Der erste Satz, so wird gelegentlich behauptet – und manchmal trifft es wohl zu –, trägt bereits die ganze Geschichte, zumindest ihre DNA, in sich. Gleich einem Samenkorn, aus dem ein ganzer Baum wächst, den man vielleicht zu Papier verarbeitet, um das Buch herzustellen, das im ersten Satz wieder das Samenkorn enthält.

So viel darf man in Wackelkontakt dem ersten Satz zugestehen: Ein paar wichtige Dinge kommen schon vor, auch wenn man dies selbstredend erst erkennt, wenn man das Übrige gelesen hat. Das gilt in diesem Fall auch für die raffinierte Metalepse1.

Der erste Satz nimmt, wie so oft, vieles vorweg und verrät doch nichts. Das macht seinen Reiz aus und lässt mich so gern dahin zurückkehren, wo alles, wenigstens in einem Buch, beginnt. Hier haben wir: (1) Franz Escher, mit seinem allusiven Namen, (2) das Warten, das man mit einem Buch oder eben mit einem (3) Puzzle zubringen kann – bis einem das Schicksal ereilt oder in der Erwartung, dass sich irgendwann etwas (4) Erwartetes oder Unerwartetes ereignet. Die zusammengesetzten Puzzleteile greifen ineinander, vervollständigen ein Bild, das aber weiterhin aus einzelnen Stücken besteht und dessen Rahmen darüber hinwegtäuscht, dass es nur einen Ausschnitt zeigt. Als würden wir durch ein Fenster blicken.

Er verstand nicht, was hier abging. Was lief hier eigentlich? Das Bild setzte sich nicht zusammen. Er hatte einen Mangel an Infor­ma­tionen. Er hatte ein Zuviel an Infor­ma­tionen. Eine unend­liche Leere öffnete sich unter seinen Füssen.

Machen wir es doch wie die Puzzlespieler und beginnen oben links mit dem Rahmen, dem ersten Satz.

Daniel Ammann 24.1.2025

  1. Auch bei der Metalepse handelt es sich um eine Art Wackelkontakt, einen narrativen Kurzschluss, bei dem unvermittelt die Ebene gewechselt wird. Wenn die einzelnen Erzählstränge ineinander greifen, sich Binnen- und Rahmenerzählung wider alle Logik gegenseitig enthalten und uns durch den Blick ins Bodenlose in einen Taumel stürzen, haben wir es mit einem Spezialfall der Metalepse zu tun, der sogenannten mise en abyme. ↩︎

Zum Thema «narrative Metalepse» siehe auch:

Jetzt schlägt’s dreizehn

Jetzt schlägt’s dreizehn

Noch einmal das Wetter, aber diesmal geht es um die Frage, was uns ein erster Satz über die Geschichte verrät, welche Erwartungen er weckt oder welche Atmosphäre schon die ersten Worte trans­por­tieren.

George Orwells berühmter Romananfang führt das sehr schön vor Augen. Unfreundliches Wetter – wie die ursprüngliche Manuskript­fassung («a cold, blowy day»1) unterstreicht und die nachfolgenden Zeilen bestätigen: «his chin nuzzled into his breast in an effort to escape the vile wind».

Keine Rede also von frühlingshaften Temperaturen und milden Schauern wie sie Geoffrey Chaucer mehr als fünf Jahrhunderte früher im Prolog seiner Canterbury Tales besingt:

Wenn milder Regen, den April uns schenkt,
Des Märzes Dürre bis zur Wurzel tränkt,
In alle Poren süssen Saft ergiesst,
Durch dessen Wunderkraft die Blume spriesst;

Geoffrey Chaucer, Canterbury-Erzählungen (in der Übersetzung von Detlef Droese)

Mit dem kurzen Hinweis auf das unwirtliche Wetter suggeriert Orwell ein realistisches Setting. Was uns dann jedoch überrascht, irritiert und auf eine aussergewöhnliche Geschichte vorbereitet, sind die letzten Worte des ersten Satzes. Auch wenn unsere heutigen Zeitmesser 24 Stunden anzeigen, schlägt es nie dreizehn. Orwells sorgfältige Überarbeitungen der Textstelle zeigen zudem, wie gekonnt er diesen Effekt erzeugt. Die Wendung «a million radios» in der Manuskriptfassung ersetzt er in einem ersten Schritt durch «innumerable clocks» und verdichtet und vereinfacht schliesslich zu «the clocks». Die scheinbare Normalität gerät unversehens ins Wanken und lässt uns mit der Frage zurück, in welcher Zeit wir hier gelandet sind?

Die geschilderten Umstände machen den Leser:innen bald klar, dass hier eine Schreckensvision heraufbeschworen wird. «Science-fiction erzählt uns normalerweise, wie andersgeartet die materiellen Lebensbedingungen in der Zukunft sein werden», merkt David Lodge dazu an (Die Kunst des Erzählens). «Orwell deutet an, dass sie ziemlich gleich wären, nur einfach schlechter.» Dass Orwell seine beklemmende Dystopie ausgerechnet im April beginnen lässt, dürfte kein Zufall sein und lässt unvermeidlich an die erste Zeilen aus T. S. Eliots Waste Land (1922) denken: «April is the cruellest month …»

April ist der grausamste Monat, er zieht
Flieder aus dem toten Land, mischt
Erinnerung und Verlangen, weckt
Dumpfe Wurzeln mit Frühlingsregen.

T. S. Eliot, «The Waste Land» (in der Übersetzung von Klaus Junkes-Kirchen)

– Daniel Ammann (11.1.2025)

  1. Das Faksimile des Typoskripts mit Orwells handschriftlichen Anmerkungen zeigt deutlich, dass er das ursprüngliche «cold, blowy» durch «bright, cold» ersetzt hat. Interessanterweise wird das Komma nach «bright» dann nicht in die erste gedruckte Ausgabe übernommen. Vermutlich Orwells Entscheidung, da er selbst die letzte (leider nicht erhaltene) Fassung für den Verlag vorbereitet hat. Les Hurst von der Orwell Society schreibt mir dazu: «Although that final typed copy no longer exists the fact that no comma appeared in the printed book must be taken as Orwell’s intention to have no comma.»
    ↩︎

Siehe auch: 

Magoria by Daniel Ammann