Das narrative Damoklesschwert

Das narrative Damoklesschwert

Eine Möglichkeit, Spannung zu erzeugen, ist wie das Ticken einer Bombe. Regisseur Alfred Hitchcock hat diese Art als Suspense bezeichnet und von Surprise, dem Überraschungsmoment, unterschieden. Im Film ist es oft so, dass wir als Zuschauer:innen mehr wissen, dass wir das drohende Unheil, die heranrückende Gefahr kommen sehen. Diese Spannung operiert mit unserem Vorwissen, speist sich aus unserem Wissensvorsprung gegenüber den handelnden Figuren der Geschichte.

In Hitchcocks Beispiel ist es die Bombe unter dem Tisch, von der die Figuren nichts ahnen. Auch Literatur arbeitet mit solchen Mitteln. Entweder die Handlung wartet mit unvorhersehbaren Wendungen auf, überrumpelt und verblüfft uns. Oder sie lässt uns ahnen, was passiert und spannt uns so auf die Folter.

Nicht selten schaffen es bereits die ersten Sätze, durch Andeutungen unsere Neugier zu wecken oder etwas Dramatisches in Aussicht zu stellen. Dabei geht es weniger um die Frage, was als Nächstes passiert, sondern wann und wie genau sich unsere dunklen Vorahnungen bewahrheiten. Gelegentlich reicht es schon, eine einschneidende Veränderung anzudeuten oder ein heraufziehendes Ereignis zu verkünden. Bleibt das Befürchtete dann doch aus (Rettung in letzter Sekunde) oder passiert etwas weitaus Schlimmeres (Katastrophe), bekommen wir zur Spannung obendrein auch noch eine Portion Überraschung.

Schauen wir uns ein typisches Beispiel an. So beginnt Louis Bayards Der denkwürdige Fall des Mr Poe:

Der Countdown erinnert an Hitchcock tickende Bombe. Der tödliche Ausgang scheint unausweichlich. Hier zeigt sich aber schon, dass es wohl gar nicht das nahende Ende des Ich-Erzählers ist, das uns vorwärts drängt. Vielmehr sind wir auf das Warum, auf die verhängnisvollen Hintergründe gespannt. Da hat es jemand eilig, seine Geschichte loszuwerden – und die Überschrift lässt vermuten, dass es eine Art Beichte wird: «Testament von Gus Landor, 19. April 1831».

Der Romantitel schürt ebenfalls hohe Erwartungen. Wer von Edgar Allen Poe gehört hat oder mit seinen unheimlichen Erzählungen und Detektivgeschichten vertraut ist, kann sich schon mal einstimmen. Eines seiner mystischen Abenteuer trägt im Deutschen den Titel Die denkwürdigen Erlebnisse des Arthur Gordon Pym. Im Original sind beide Titel wesentlich unspektakulärer. Poes Erzählung aus dem Jahr 1838 heisst schlicht The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket. Und Louis Bayards Kriminalroman trägt im Englischen den Titel The Pale Blue Eye – eine direkte und doch subtile Anspielung auf das «blassblaue Auge» des alten Mannes, dem Poes manischer Ich-Erzähler in der Kurzgeschichte «Das verräterische Herz» nach dem Leben trachtet. Es ist nur eine Frage der Zeit. 

Auch über Bayards Protagonist Augustus Landor baumelt ein unsichtbares Damoklesschwert. Und Poe-Kenner:innen denken vielleicht an Die Fallgrube und das Pendel und den Satz «Das Urteil – das grausame Todesurteil – war das Letzte, was noch klar an meine Ohren drang.»

Louis Bayard
Der denkwürdige Fall des Mr Poe.
Aus dem amerikanischen Englisch von Peter Knecht.
Berlin: Insel Verlag, 2022. 500 Seiten.

Edgar Allan Poe
Neue unheimliche Geschichten.
Aus dem amerikanischen Englisch v. Andreas Nohl.
München: dtv, 2020. 392 Seiten.

 

Es läutet …

Es läutet …

«Am Anfang steht eine Frage, ein Rätsel, ein Geheimnis.» Das habe ich vor nicht allzu langer Zeit in einem Aufsatz behauptet. Sehr oft gilt das schon für den Einstieg in eine Geschichte. Wir sitzen in einem dunklen Raum und der erste Satz stösst die Tür einen Spalt auf. Das einfallende Licht weckt unsere Neugier, lockt uns in den anderen Raum. Bleiben wir vor der Schwelle stehen, hat der Roman verloren.

Machen wir die Probe aufs Exempel und schauen uns aufs Geratewohl Franz Hohlers Roman Das Päckchen (2017) an. Eigentlich beginnt das Rätsel schon mit dem Titel, denn wir möchten schon gern erfahren, von welchem Päckchen die Rede ist und was es damit auf sich hat. Geht es um ein wertvolles Geschenk, eine falsch zugestellte Postsendung oder ein Paket mit Sprengstoff? Schliesslich will man uns eine Geschichte andrehen. Da hoffen wir auf Spannung und unvorhergesehene Überraschungen. Der erste Satz lautet also:

Aha! Keine Antwort, sondern lauter neue Fragen. Wer ist «er»? Warum sollte er den Hörer denn nicht abnehmen? – Vibriert da ein fremdes Handy auf dem Tisch im Café oder geht der Unbekannte wie im Spionagefilm an einer Telefonzelle vorbei, als es drinnen zu klingen beginnt?

Auf jeden Fall muss es sich um eine folgenschwere Entscheidung handeln, sonst gäbe es nichts zu erzählen. Mit anderen Worten: keine Geschichte. Ist die anrufende Person nur «falsch verbunden» oder stellt sich Mitarbeiter:in eines Callcenters heraus, kann das Leben ungestört weitergehen. Zumindest wissen wir: Es gibt ein Später. Dieser «er» hat überlebt und macht sich im Nachhinein Gedanken. «Bei Anruf, Mord» war es also nicht.

Will ich mehr erfahren, bleibt mir also nichts anderes übrig als weiterzulesen. Da mit dem ersten Satz auch der Absatz fertig ist, schalte ich eine kurze Pause ein und schaue, was hochkommt. Von Weitem höre ich das Klingeln in einem anderen Buch. Wo war das noch gleich? Paul Auster natürlich (oder eher unnatürlich). Stadt aus Glas (1987). Auch kein schlechter Anfang:

Mit einer falschen Nummer fing es an, mitten in der Nacht läutete das Telefon dreimal, und die Stimme am anderen Ende fragte nach jemandem, der er nicht war.

Ich fahre mit Hohlers erstem Satz weiter:

Warum er den Hörer abgenommen hatte, konnte er sich später nicht mehr erklären.

Dann abermals Auster (als würde er den Gedanken weiterführen):

Viel später, als er in der Lage war, darüber nachzudenken, was mit ihm geschah, sollte er zu dem Schluss kommen, nichts ist wirklich ausser dem Zufall.

An eine ruhige Lektüre ist nun nicht mehr zu denken. Unweigerlich beginnen nun die beiden Romane miteinander zu sprechen und entfalten eine dritte Geschichte. Ich springe hin und her und kann mich dem dialogischen Wechselspiel nicht mehr entziehen.

Da machte er einen Schritt, hob den Hörer und sagte: «Hallo?»

Dann kam wie aus grosser Entfernung der Klang einer Stimme, wie er dergleichen noch keine gehört hatte. Er erschrak.

«Hallo?», sagte die Stimme.

«Wie kann ich Ihnen helfen?»

«Ist das Paul Auster?», fragte die Stimme.

Er zögerte einen Moment und sagte dann: «Ja. Wer spricht?»

«Ich möchte Mr. Paul Auster sprechen.»

«Natürlich. Und wie kann ich helfen?»

Wieder ein Schweigen am anderen Ende.

«Bitte. Die Angelegenheit ist äusserst dringend», sagte die Stimme. «Ich brauche deine Hilfe.»

«Wer spricht dort?»

«Ich», sagte die Frau am andern Ende.

«Was kann ich für Sie tun?»

Hier, sagte er sich später, hier hätte er aufhängen sollen, denn hier hatte er aus irgendeiner Neugier heraus begonnen, sich auf das Spiel einzulassen.

Vor ziemlich genau 35 habe ich im Nebelspalter den 1074 Seiten starken Band 14 des PTT-Telefonbuchs besprochen. An den ersten Satz habe ich leider keine Erinnerung mehr, aber auch in diesem Bestseller der Gebrauchsliteratur gab es einen mysteriösen Anruf.

– Mit wem möchten Sie sprechen?
– Mit wem spreche ich?
– Sie sprechen mit …
– Ich möchte gerne Herrn X sprechen.
– Herr X ist nicht da. Kann ich etwas ausrichten?
– Kann ich mit dem Vertreter von Herrn X sprechen? Der Anruf ist sehr dringend.
– Könnten Sie bitte lauter sprechen? Ich verstehe nicht.

Die letzte Dialogzeile wäre doch ein passabler erster Satz für einen Roman, oder? Vielleicht haben Sie ja Lust, den Faden aufzugreifen und den Text weiterzuspinnen. Einiges hängt vom ersten Satz ab, aber mehr noch von dem, was folgt und was die Geschichte aus dem vielversprechenden Anfang macht. Oder wie es in Paul Austers erstem Roman Stadt aus Glas heisst:

Das Problem ist die Geschichte selbst, und ob sie etwas bedeutet oder nicht, muss die Geschichte nicht sagen.

Warum hat Ihr Protagonist wohl den Hörer abgenommen?

Alles auf Anfang – eine kleine Poetik der ersten Sätze

Alles auf Anfang – eine kleine Poetik der ersten Sätze

«Ein Satz – schon sitzt man in der Tinte»
Neue Zürcher Zeitung 3.7.2019, S. 36.
Online unter dem Titel:
«Alles auf Anfang – eine kleine Poetik der ersten Sätze.»
 nzz.ch/feuilleton/

Der erste Satz, heisst es, entscheide quasi über das Schicksal eines Romans oder einer Erzählung. Da wundert es einen, dass überhaupt noch ein Autor, eine Autorin den Stift aufs leere Blatt setzen mag. Wie kommen Anfänge eigentlich zustande – und gibt es ein Rezept für den guten Start?



Ende. Fertig. Schluss.

textín – Das Magazin der Schreibszene Schweiz 3 (2009): S. 31.
Download

Ende. Schluss. Fertig. Aus!

So wollte ich schon immer einen Text beginnen. Mit einem Knall, nicht mit Gewinsel.

Die erste Zeile geht zum Angriff über, packt die Leser am Schopf.

Aller Anfang ist leicht. Auch wenn das Sprichwort am Gegenteil festhält.

Aber jetzt wie weiter?

Jagt uns gleich jemand eine Kugel in den Kopf oder springt von der Brücke, um im freien Fall sein verpatztes Leben auszubreiten? Oder war’s das etwa? Ist das Pulver bereits verschossen?

Die ganze Arbeit liegt noch vor uns – eine überhängende Felswand, die in den Himmel ragt, ein tobendes Meer, das es schreibend zu durchqueren gilt.

«Nennt mich Ismael», hebt Herman Melville heroisch an und lässt einen wuchtigen Wal aus den Wellen brechen.

«Nennt mich Smitty», parodiert Philip Roth und pfeffert uns den Grossen amerikanischen Roman wie einen Baseball um die Ohren.

Anfänge haben’s in sich. Wer grossspurig auftrumpft, darf sich nicht mit einem schlechten Blatt in der Hand erwischen lassen. Aber keine Angst. Wenn Sie den ersten Satz schreiben, haben Sie schon zig Anfänge hinter sich. Nehmen Sie ruhig einen von denen und schreiben Sie dort weiter:

Mein Vater war ein Bauerssohn … 
(Gottfried Keller, Der grüne Heinrich)

Mein Vater war ein Kaufmann
(Adalbert Stifter, Der Nachsommer)

Mein Vater war ein Gartenzwerg …
(Kathrin Röggla, Abrauschen)

Mein Vater war ein Kommunist
(Urs Widmer, Das Buch des Vaters)

Mein Vater war Totengräber
(Maarten 't Hart, Der Flieger)

Beginnen Sie. Legen Sie einfach los. Machen Sie wenigstens einen Anfang.

Magoria by Daniel Ammann