Was uns als Menschen auszeichnet und neben empfindsamer Körperlichkeit von leidenschaftsloser KI unterscheidet, ist unser Drang nach Wissen, die unaufhörliche Suche nach Antworten, die in den Enzyklopädien unserer Kultur noch nicht zu finden sind. Für Margaret Atwood sind es die brennenden Fragen, die uns vorantreiben und vorwärtsbringen.
Schreiben und Geschichtenerzählen sind gleichermassen Ausdruck dieser fragenden Grundhaltung. Aus Neugier und Leidenschaft (so der Titel eines früheren Bandes) richtet die kluge und engagierte Autorin seit Jahrzehnten ihren scharfen Blick auf die Wirklichkeit. Auch und vor allem dann, wenn sie uns scheinbar Märchen auftischt. Wie die fiktionalen beflügeln auch ihre essayistischen Gedankenreisen. Sie öffnen eine Luke, offenbaren den doppelten Boden einer fragilen Welt und geben Einblick in ihr Schreiben. – Daniel Ammann
Margaret Atwood Brennende Fragen: Essays und Gelegenheitsarbeiten von 2004–2021. Deutsch von Jan Schönherr, Eva Regul und Martina Tichy. Berlin: Berlin Verlag, 2023. 704 Seiten.
Es ist gerade mal vierzig Jahre her. Trotzdem hat man schon fast vergessen, dass es damals auf dem Bau in den Pausen Bier gab, dass in den Beizen und überall geraucht wurde und man samstagvormittags noch Schule hatte.
Pedro Lenz nimmt uns mit ins Jahr 1982 und lässt den siebzehnjährigen Maurerlehrling Charly aus dieser Zeit erzählen – vor allem von seinem Freund und Mentor, dem spanischen Gastarbeiter Primitivo Pérez, der bei einem Arbeitsunfall ums Leben kommt, von dessen Abenteuern in Südamerika, der Jagd nach Kriegsverbrechern, aber auch von Büchern und dem Zauber der Poesie, von Freundschaft, Verliebtheit und einem berauschenden Polo-Hofer-Konzert in der «Traube» von Wynau. Uwe Dethier hat den Mundartroman souverän ins Hochdeutsche übersetzt und findet einen eigenen Ton, der nie manieriert wirkt. In der direkten Rede bleibt der Maurerlehrling zwar ein Stift, aber aus den Beizen werden Kneipen und «d Chessle und d Garette» müssen dem Kübel und der Schubkarre weichen. – Daniel Ammann
Pedro Lenz Primitivo. Aus dem Schweizerdeutschen von Uwe Dethier. Zürich: Kein und Aber, 2023. 237 Seiten.
Krimis wiegen uns in Sicherheit. Wir müssen nicht fürchten, dass sich bei der fiktionalen Schiesserei eine Kugel in unser Wohnzimmer verirrt oder unter dem Sofa plötzlich ein Sprengsatz detoniert. Die Bluttaten im Unterhaltungsprogramm sind gewissermassen harmlos. Kaum laufen aber die Nachrichten über den Bildschirm, ist es mit dem Spass vorbei. Krieg, Amokläufe, Terroranschläge, Attentate und Morde sind an der Tagesordnung. Rund vierzigtausend Amerikaner:innen, resümiert Paul Auster in seinem ebenso politischen wie persönlichen Essay, verlieren jährlich durch Schussverletzungen ihr Leben. Hinzu kommen doppelt so viele Verletzte, die oft lebenslang unter Folgeschäden zu leiden haben. Auster macht klar, dass rigorose Gesetze daran wenig zu ändern vermöchten. Spencer Ostranders Schwarzweissfotos zeigen scheinbar friedliche Schauplätze – Tatorte früherer Massentötungen, nachdem die Spuren beseitigt wurden. – Daniel Ammann
Paul Auster Bloodbath Nation. Mit Fotos von Spencer Ostrander. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Hamburg: Rowohlt, 2024. 188 Seiten.
Normalerweise können wir den Autor:innen beim Schreiben nicht über die Schulter schauen. Aber hin und wieder verraten sie uns in Poetikvorlesungen, Interviews, Briefen oder nachgelassenen Notizbüchern, wie die Arbeit vonstatten ging, wo ein Schreibprojekt seinen Anfang nahm und welche künstlerischen Entscheidungen sie treffen mussten. Was wir allerdings immer bekommen, sind die fertigen Texte. Wir brauchen sie nur genau zu lesen und die richtigen Fragen zu stellen. «Wenn es eine Erzählung schafft, uns hineinzuziehen und weiterlesen zu lassen, und uns das Gefühl gibt, ernst genommen zu werden, wie macht sie das?»
Ausgehend von dieser und weiteren Fragen hat Autor und Universitätsdozent George Saunders sein Programm des genauen Lesens entwickelt. Über zwanzig Jahre hat er an der Syracuse University im Bundesstaat New York angehende Schriftsteller:innen in Creative Writing unterrichtet. Die Essenz seiner Close-Reading-Methode liegt nun unter dem Titel Bei Regen in einem Teich schwimmen (Orig. A Swim in a Pond in the Rain) als Buch vor.
Saunders nimmt darin sieben klassische Kurzgeschichten der grossen russischen Schriftsteller Anton Tschechow, Iwan Turgenjew, Leo Tolstoi und Nicolai Gogol unter die Lupe und führt uns Schritt für Schritt durch die Lektüre. Es geht darum, die «Physik des Genres» zu begreifen und herauszufinden, wie die Meister zu Werke gehen und auf welche Weise die Texte ihre einzigartige Wirkung entfalten. Ein besonderes Augenmerk legt Saunders dabei auf Figuren und Handlung, sich verändernde Leseerwartungen sowie Muster, die sorgfältig etabliert und alsdann kunstvoll variiert oder unterlaufen werden.
Bei diesen rezeptionsästhetischen Tiefenbohrungen kommt Saunders erstaunlicherweise ohne die üblichen Begrifflichkeiten der Erzähltheorie aus. Er sei, wie er eingangs betont, kein Kritiker, kein Literaturwissenschaftler oder Experte für russische Literatur. Vielmehr geht es ihm darum, was wir beim Lesen gefühlt haben, und an welcher Stelle wir es gefühlt haben. Denn jede schlüssige Denkarbeit beginne mit einer echten Reaktion.
Überträgt man das auf das eigene Schreiben, lautet die wichtigste Frage: «Was hält einen Leser bei der Stange? Oder genauer: Was hält meinen Leser bei der Stange? (Was trägt und treibt einen Leser durch meine Prosa voran?)» Das Überarbeiten des Textes wird damit zu einer Übung in Beziehungspflege. Der gemeinsame Spaziergang durch die meisterhaften Erzählungen ist ein besonderer Genuss und eine Leseschule obendrein. Laut Saunders sollen wir die Texte durchaus daraufhin lesen, «was wir bei ihnen klauen können». Und damit wir nach der Tiefenlektüre eine Brücke zum eigenen Schreiben schlagen, gibt er uns nicht nur Tipps auf den Weg, sondern fügt im Anhang drei handwerkliche Übungen bei.
George Saunders Bei Regen in einem Teich schwimmen: Von den russischen Meistern lesen, schreiben und leben lernen. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. München: Luchterhand, 2022. 544 Seiten.
Kilian Hauptmann, Philipp Pabst und Felix Schallenberg, Hrsg. Anthologieserie: Systematik und Geschichte eines narrativen Formats. Marburg: Schüren Verlag, 2022. 270 Seiten.
1922 gilt als Annus mirabilis der Literatur. Der Ulysses von James Joyce und T. S. Eliots The Waste Land werden in einem Atemzug genannt. Innovativ, experimentell und in ihrer Vielstimmigkeit modern muten diese Titel heute noch an. So auch Mrs. Dalloway. Virginia Woolfs Roman erscheint zwar drei Jahre später, aber seine Entstehung fällt ebenfalls ins Jahr 1922. Dank der frischen Übersetzung von Melanie Walz darf dieses Meisterwerk nun wieder neu entdeckt werden (Manesse, 2022).
In seinem erzählenden Sachbuch 1922 (Luchterhand, 2022) nimmt Norbert Hummelt neben Joyce, Eliot und Woolf auch den damals im Wallis lebenden Dichter Rainer Maria Rilke in den Blick. In einem kalendarischen Kaleidoskop fügt Hummelt biografische Momentaufnahmen zu Mosaiken zusammen und lässt uns hautnah ins Wunderjahr der Worte eintauchen.
Wer hätte geahnt, dass sich 100 Jahre später noch ein Schweizer dazugesellt – kurz nachdem man die Zweihunderternote mit seinem Konterfei aus dem Verkehr gezogen hat. Sturz in die Sonne (Limmat, 2023) des Waadtländer Autors C. F. Ramuz erscheint jetzt erstmals auf Deutsch. Dass Ramuz damit den Klimaroman vorwegnehme, stimmt nur bedingt. Die apokalyptische Geschichte handelt eher von der in atavistische Aggression umschlagenden Apathie der Menschen im Angesicht des Todes. Durch einen Unfall im Gravitationssystem gerät die Erde aus ihrer Umlaufbahn und nimmt Kurs auf die Sonne. – Daniel Ammann
Literaturangaben
Virginia Woolf Mrs. Dalloway. Aus dem Englischen übersetzt von Melanie Walz. München: Manesse, 2022. 400 Seiten.