Es läutet …

Es läutet …

«Am Anfang steht eine Frage, ein Rätsel, ein Geheimnis.» Das habe ich vor nicht allzu langer Zeit in einem Aufsatz behauptet. Sehr oft gilt das schon für den Einstieg in eine Geschichte. Wir sitzen in einem dunklen Raum und der erste Satz stösst die Tür einen Spalt auf. Das einfallende Licht weckt unsere Neugier, lockt uns in den anderen Raum. Bleiben wir vor der Schwelle stehen, hat der Roman verloren.

Machen wir die Probe aufs Exempel und schauen uns aufs Geratewohl Franz Hohlers Roman Das Päckchen (2017) an. Eigentlich beginnt das Rätsel schon mit dem Titel, denn wir möchten schon gern erfahren, von welchem Päckchen die Rede ist und was es damit auf sich hat. Geht es um ein wertvolles Geschenk, eine falsch zugestellte Postsendung oder ein Paket mit Sprengstoff? Schliesslich will man uns eine Geschichte andrehen. Da hoffen wir auf Spannung und unvorhergesehene Überraschungen. Der erste Satz lautet also:

Aha! Keine Antwort, sondern lauter neue Fragen. Wer ist «er»? Warum sollte er den Hörer denn nicht abnehmen? – Vibriert da ein fremdes Handy auf dem Tisch im Café oder geht der Unbekannte wie im Spionagefilm an einer Telefonzelle vorbei, als es drinnen zu klingen beginnt?

Auf jeden Fall muss es sich um eine folgenschwere Entscheidung handeln, sonst gäbe es nichts zu erzählen. Mit anderen Worten: keine Geschichte. Ist die anrufende Person nur «falsch verbunden» oder stellt sich Mitarbeiter:in eines Callcenters heraus, kann das Leben ungestört weitergehen. Zumindest wissen wir: Es gibt ein Später. Dieser «er» hat überlebt und macht sich im Nachhinein Gedanken. «Bei Anruf, Mord» war es also nicht.

Will ich mehr erfahren, bleibt mir also nichts anderes übrig als weiterzulesen. Da mit dem ersten Satz auch der Absatz fertig ist, schalte ich eine kurze Pause ein und schaue, was hochkommt. Von Weitem höre ich das Klingeln in einem anderen Buch. Wo war das noch gleich? Paul Auster natürlich (oder eher unnatürlich). Stadt aus Glas (1987). Auch kein schlechter Anfang:

Mit einer falschen Nummer fing es an, mitten in der Nacht läutete das Telefon dreimal, und die Stimme am anderen Ende fragte nach jemandem, der er nicht war.

Ich fahre mit Hohlers erstem Satz weiter:

Warum er den Hörer abgenommen hatte, konnte er sich später nicht mehr erklären.

Dann abermals Auster (als würde er den Gedanken weiterführen):

Viel später, als er in der Lage war, darüber nachzudenken, was mit ihm geschah, sollte er zu dem Schluss kommen, nichts ist wirklich ausser dem Zufall.

An eine ruhige Lektüre ist nun nicht mehr zu denken. Unweigerlich beginnen nun die beiden Romane miteinander zu sprechen und entfalten eine dritte Geschichte. Ich springe hin und her und kann mich dem dialogischen Wechselspiel nicht mehr entziehen.

Da machte er einen Schritt, hob den Hörer und sagte: «Hallo?»

Dann kam wie aus grosser Entfernung der Klang einer Stimme, wie er dergleichen noch keine gehört hatte. Er erschrak.

«Hallo?», sagte die Stimme.

«Wie kann ich Ihnen helfen?»

«Ist das Paul Auster?», fragte die Stimme.

Er zögerte einen Moment und sagte dann: «Ja. Wer spricht?»

«Ich möchte Mr. Paul Auster sprechen.»

«Natürlich. Und wie kann ich helfen?»

Wieder ein Schweigen am anderen Ende.

«Bitte. Die Angelegenheit ist äusserst dringend», sagte die Stimme. «Ich brauche deine Hilfe.»

«Wer spricht dort?»

«Ich», sagte die Frau am andern Ende.

«Was kann ich für Sie tun?»

Hier, sagte er sich später, hier hätte er aufhängen sollen, denn hier hatte er aus irgendeiner Neugier heraus begonnen, sich auf das Spiel einzulassen.

Vor ziemlich genau 35 habe ich im Nebelspalter den 1074 Seiten starken Band 14 des PTT-Telefonbuchs besprochen. An den ersten Satz habe ich leider keine Erinnerung mehr, aber auch in diesem Bestseller der Gebrauchsliteratur gab es einen mysteriösen Anruf.

– Mit wem möchten Sie sprechen?
– Mit wem spreche ich?
– Sie sprechen mit …
– Ich möchte gerne Herrn X sprechen.
– Herr X ist nicht da. Kann ich etwas ausrichten?
– Kann ich mit dem Vertreter von Herrn X sprechen? Der Anruf ist sehr dringend.
– Könnten Sie bitte lauter sprechen? Ich verstehe nicht.

Die letzte Dialogzeile wäre doch ein passabler erster Satz für einen Roman, oder? Vielleicht haben Sie ja Lust, den Faden aufzugreifen und den Text weiterzuspinnen. Einiges hängt vom ersten Satz ab, aber mehr noch von dem, was folgt und was die Geschichte aus dem vielversprechenden Anfang macht. Oder wie es in Paul Austers erstem Roman Stadt aus Glas heisst:

Das Problem ist die Geschichte selbst, und ob sie etwas bedeutet oder nicht, muss die Geschichte nicht sagen.

Warum hat Ihr Protagonist wohl den Hörer abgenommen?

Schiesswütiges Amerika

«Schiesswütiges Amerika.»
 Akzente 2 (2023): S. 34.
blog.phzh.ch/akzente/2024/05/27/schiesswuetiges-amerika/
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Krimis wiegen uns in Sicherheit. Wir müssen nicht fürchten, dass sich bei der fiktionalen Schiesserei eine Kugel in unser Wohnzimmer verirrt oder unter dem Sofa plötzlich ein Sprengsatz detoniert. Die Bluttaten im Unterhaltungsprogramm sind gewissermassen harmlos. Kaum laufen aber die Nachrichten über den Bildschirm, ist es mit dem Spass vorbei. Krieg, Amokläufe, Terroranschläge, Attentate und Morde sind an der Tagesordnung. Rund vierzigtausend Amerikaner:innen, resümiert Paul Auster in seinem ebenso politischen wie persönlichen Essay, verlieren jährlich durch Schussverletzungen ihr Leben. Hinzu kommen doppelt so viele Verletzte, die oft lebenslang unter Folgeschäden zu leiden haben. Auster macht klar, dass rigorose Gesetze daran wenig zu ändern vermöchten. Spencer Ostranders Schwarzweissfotos zeigen scheinbar friedliche Schauplätze – Tatorte früherer Massentötungen, nachdem die Spuren beseitigt wurden.
– Daniel Ammann

Paul Auster
Bloodbath Nation.
Mit Fotos von Spencer Ostrander. Aus dem Englischen von Werner Schmitz.
Hamburg: Rowohlt, 2024. 188 Seiten.

Verzweigte Lebenspfade

Verzweigte Lebenspfade

«Windungen und Wendungen.»
Akzente 4 (2021): S. 39.
 blog.phzh.ch/akzente/2021/11/26/windungen-und-wendungen
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Matt Haig
Die Mitternachtsbibliothek.
Aus dem Englischen von Sabine Hübner.
München: Droemer, 2021. 320 Seiten.

Paul Auster
4 3 2 1.
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel, Werner Schmitz, Karsten Singelmann und Nikolaus Stingl.
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2017. 1264 Seiten.

Yesterday.
Grossbritannien 2019.
Regie: Danny Boyle. DVD: Universal Pictures Video, 2019.

Topografie des Lebens

Topografie des Lebens

«Topografie des Lebens.» Paul Austers Roman Sunset Park.
Neue Züricher Zeitung 7.8.2012, S. 47.

Paul Auster.
Sunset Park.
Aus dem Englischen von Werner Schmitz.
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2012.
317 Seiten.

Was gewesen ist, lässt sich weder ausradieren noch umschreiben. Aber Neuanfänge sind möglich. Für Miles Heller, die zentrale Hauptfigur in Paul Austers Roman «Sunset Park», könnte die Begegnung mit der aufgeweckten Pilar einen Neuanfang bedeuten und ihn aus der emotionalen Lethargie befreien. Vor siebeneinhalb Jahren hat er sich über Nacht von seinem wohlbehüteten New Yorker Zuhause verabschiedet, ist spurlos untergetaucht und hält sich seither mit Gelegenheitsjobs über Wasser.

Magoria by Daniel Ammann