Die Entdeckung der Langsamkeit

Wenn es um die Mühsal des Schreibens geht, jammern selbst erfahrene Autoren auf hohem Niveau. Wie beschwerlich muss es erst sein, wenn man um jeden einzelnen Buchstaben ringt. Jean­-Dominique Bauby erleidet mit 43 einen Hirnschlag und bleibt vollständig gelähmt. Wahrnehmung und Denken sind intakt, aber eingesperrt in seinem Körper kann er nicht mit der Aussenwelt kommunizieren. Ein Auge muss zugenäht werden, mit dem anderen kann er noch blinzeln. Mit Hilfe einer Alphabettabelle gelingt es Bauby, ein ganzes Buch zu diktieren. In Schmetterling und Taucherglocke beschreibt er seinen Zustand und blickt auf sein bisheriges Leben zurück. Regisseur Julian Schnabel hat Baubys Geschichte 2007 verfilmt und zeigt in starken Bildern, wie der Autor seine Ohnmacht überwindet und allen Widerständen zum Trotz und mit Humor erzählt.

Auch Stephen Hawking hat trotz seiner degenerativen Nervenerkrankung zahlreiche Bücher verfasst, wie im Biopic The Theory of Everything zu sehen ist. Als der junge Physiker im Rollstuhl sitzt und nicht mehr sprechen kann, ermöglicht ihm ein Computer, per Knopfdruck etwa vier Wörter pro Minute zu produzieren.

Weit grösser waren die Hindernisse für die Helen Keller (1880–1968), die seit ihrem zweiten Lebensjahr blind und gehörlos war. Nur dank ihrer engagierten Erzieherin und Hauslehrerin Annie Sullivan schaffte sie den Weg aus der Isolation und erlangte mit ihren Büchern Weltruhm. In seiner preisgekrönten Graphic Novel Sprechende Hände zeichnet Joseph Lambert Helens bewegende Geschichte nach und gibt Einblick in die einzigartige Beziehung zwischen Lehrerin und Schülerin.

Daniel Ammann, 23.2.2016

Erschienen in: Akzente 1 (2016): S. 35. (PDF)


Bauby, Jean-Dominique. Schmetterling und Taucherglocke. Deutsch v. Uli Aumüller. München: dtv, 2009 (1998). 134 Seiten.

Le scaphandre et le papillon. (Schmetterling und Taucherglocke.) Frankreich/USA 2007. Regie: Julian Schnabel.

The Theory of Everything. (Die Entdeckung der Unendlichkeit: die aussergewöhnliche Geschichte von Jane und Stephen Hawking.) GB 2014. Regie: James Marsh. Zürich: Universal Pictures Switzerland, 2015. DVD.

Lambert, Joseph. Sprechende Hände: Die Geschichte von Helen Keller. Aus dem Amerikanischen von Johanna Wais. Köln: Egmont Graphic Novel, 2015. 96 Seiten.

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Imaginäre Bibliothek

Was haben Romane wie Arsonist’s Daughter von Grady Tripp, Dream House von Peter Ward, Heartbroken Old Times von Calvin Weir-Fields oder Descent von Noah Solloway gemeinsam? – Sie alle waren erfolgreich, standen auf Bestsellerlisten oder wurden mit namhaften Preisen ausgezeichnet. Aber nicht nur das. All diese Romane gibt es gar nicht – jedenfalls nicht im Buchhandel. Sie kommen nur in der Fiktion vor, denn ihre Autoren sind selber Figuren aus Filmen, TV-Serien und Romanen.

Umso witziger, dass es zu vielen dieser fiktiven Romane oft doch reale Cover-Abbildungen gibt. Für den Film Listen Up, Philip (Alex Ross Perry, 2014) existiert sogar eine ganze Galerie von Buchumschlägen:

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Ein paar Regale in meiner Bibliothek sind für solche Titel reserviert. Da die Bücher ebenso fiktiv wie virtuell sind, brauchen sie kaum Platz. Es sei denn, ich entschliesse mich dazu, passende Attrappen anfertigen zu lassen – so wie das Charles Dickens getan hat: Als er 1851 in sein neues Heim Tavistock House zog, beauftragte er seinen Buchbinder Thomas Robert Eeles, für die leeren Regale dekorative Buchattrappen herzustellen. Dabei dachte ich immer, Buchattrappen seien eine Erfindung der Möbelhäuser und Messehallen.

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Siehe auch den Beitrag «Verworfene Titel».

Bogey, Bogus und ihre Freunde

Harvey
Harvey (USA 1950, Regie: Henry Koster)

Seit ein paar Jahren bin ich den imaginären Freunden schon auf der Spur. Nicht den eigenen, sondern denen, die sich in Büchern und Filmen manifestieren und Teil unserer Medienkultur geworden sind. Angefangen beim zwei Meter grossen Hasen Harvey aus dem gleichnamigen Film mit James Stewart, über Fight Club und Chocolat bis zu Jodie Fosters eindrücklichem Drama The Beaver.
Als 2012 Matthew Dicks’ Memoirs of an Imaginary Friend erscheint, weiss ich sogleich, dass ich den Titel unbedingt besprechen möchte, sobald er auf Deutsch herauskommt. Es dauert jedoch ein Weilchen, bis ich den deutschen Verlag ausfindig mache. Letztlich muss mir der Autor selbst auf die Sprünge helfen. 2013 erscheint die deutsche Übersetzung unter dem Titel Der beste Freund, den man sich denken kann und praktisch zeitgleich meine Rezension. Ich arbeite mich weiter durch Fachliteratur, unzählige Spielfilme und Romane. Die Früchte dieser Recherche liegen nun als Artikel vor: «Panoptikum der Phantasiegefährten: Imaginäre Freunde in Literatur und Film» (NZZ 26./27.9.2015, S. 51–52).

Von Sinnen

perfect-sense-coverUnsere Sinne sind ein Tor zur Welt. Wenn sie ausfallen, entschwindet ein Stück Wirklichkeit.

Wie sich der Verlust einzelner Wahrnehmungen auswirkt, führt Regisseur David Mackenzie in seinem poetisch‑apokalyptischen Film Perfect Sense (GB 2011) drastisch vor Augen. In Glasgow und rund um den Globus tauchen immer mehr Menschen auf, die ihren Geruchssinn verloren haben. Die Epidemiologin Susan (Eva Green) steht vor einem Rätsel. Michael (Ewan McGregor) bekommt die Auswirkungen ebenfalls zu spüren. Im Restaurant, in dem er als Koch arbeitet, bleiben die Gäste aus.
Das ist erst der Anfang. Begleitet von heftigen Gefühlsausbrüchen verabschiedet sich als Nächstes der Geschmackssinn, und schliesslich vergeht den Men­schen Hören und Sehen. Die Welt droht in Panik, Chaos und Dunkelheit zu versinken.

Die Geschichte erinnert an José Saramagos Roman Die Stadt der Blinden und dessen beklemmende Verfilmung durch Fer­nando Meirelles (USA 2008). Während ein Mann auf das Umschalten der Ampel wartet, verliert er von einem Moment auf den anderen das Augenlicht und kurz darauf folgen jene, die mit ihm Kontakt hatten. Die Regierung sperrt die Erkrankten in ein leeres Irrenhaus, wo Mitgefühl rasch in Gewalt und Anarchie umschlägt.

Daniel Ammann

Aus: Akzente 1 (2015): S. 35.


Perfect Sense. Grossbritannien, Dänemark, Schweden, Irland 2011. Regie: David Mackenzie. Berlin: Senator Home Entertainment, 2012. DVD.
José Saramago. Die Stadt der Blinden. Übers. Ray G. Mertin. 18. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2008. 398 Seiten.
Blindness (Die Stadt der Blinden). USA 2008. Regie: Fernando Meirelles. Berlin: Arthaus, 2010, DVD.

Synchronesisch

Synchronesisch

«Bastardwendungen oder cooles Alltagsdeutsch? Wie Synchronesisch unsere Sprache beeinflusst.»
Sprachspiegel 1 (2024): S. 2–19. 

Im «Sprachspiegel» (1/2024, S. 2–19) habe ich mich mit dem Phänomen «Synchronesisch» (engl. dubbese) und seinen Wechselwirkungen mit der Alltagssprache (und dem, was Eike Schönfeld «Bastard­wendungen» nennt) auseinandergesetzt. Dabei werfe ich am Beispiel einer Episode aus der Netfllix-Serie Designated Survivor (2016–2019) auch einen vergleichenden Blick auf die Untertitelung und schaue mir an, wie die literarische Übersetzer:innen von J. D. Salingers Klassiker The Catcher in the Rye (1951) mit dem Wörtchen «okay» umgehen.

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Übersetzung und Synchronisation

 

Magoria by Daniel Ammann