Special Effects in Literary Fiction: «Mister Write» goes to …

Ich bin ein Close Reader. Beim Lesen schleift schon mal mein Augapfel übers Papier. Ich will wissen, wie Texte funktionieren. Wie macht das eigentlich die Literatur mit der Zeitlupe, der Nahaufnahme, den harten Schnitten und Spezialeffekten. Literaturpreise werden für einzelne Titel oder das Gesamtwerk verteilt, aber ich fände es durchaus angemessen, mal einen ausgewählten Aspekt eines Romans auszuzeichnen, vielleicht bloss eine einzige Textstelle, die etwas Besonderes zuwege bringt. Schliesslich freue ich mich als Leser über jede gelungene Alliteration, einen einfallsreichen Vergleich oder ein mot juste, erst recht aber über hintersinnige Dialoge, stilistische Pirouetten, einen raffinierten Plot Twist oder Beschreibungen von impressionistischer Perfektion.

Ich werde meinen Preis den «HC Award for Special Achievement in Literary Fiction» nennen, inspiriert durch den Literatur- und Filmkritiker Herman Couzens. Die Idee ist gar nicht so abwegig und neu, immerhin gibt es bereits jede Menge Mock-Prizes wie etwa den «Bad Sex in Fiction Award» oder den «Bulwer-Lytton Fiction Contest» (BLFC), dessen Gewinner für den fürchterlichsten Romananfang ausgezeichnet werden. Warum sollen nicht auch Glanz- und Fehlleistungen in anderen Kategorien prämiert werden? Eine originelle Wortschöpfung, ein witziger Übersetzungsfehler, eine herausragende Formulierung, die es ins Zitatenlexikon schaffen sollte, oder der sprachliche Ausrutscher des Monats. Dafür gibt es dann – wie könnte er anders heissen – meinen «Mister Write».

Damit wir die Latte nicht zu hoch legen und die Sache dann Monate vor uns her schieben, beginnen wir gleich mit einem ersten Beispiel. (Selbstverständlich hätte schon Flauberts galoppierender Satz diesen Preis verdient.)

Im Jugendroman Bet empört sich erinnert sich die 17-jährige Titelheldin auf Seite 201 an ihre kleine Schwester Martina, für deren Tod sie sich noch immer die Schuld gibt.

Christian Frascella: Bet empört sich (FVA 2015)
Christian Frascella: Bet empört sich (FVA 2015)

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«Anhand von Details stellen wir unseren Blick ein, machen wir unsere Eindrücke fest oder erinnern wir uns», schreibt Daniel Kehlmann im Vorwort zu  James Woods Buch Die Kunst des Erzählens. Gekonnt montiert Frascella Momentaufnahmen und erzielt dadurch eine eindrückliche komprimierende Wirkung.

Für diese zeitraffende Montagesequenz in Bet empört sich geht der heutige «Mister Write» an den Turiner Autor Christian Frascella und seine deutsche Übersetzerin Annette Kopetzki.


Frascella, Christian. Bet empört sich. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Frankfurt/M.: Frankfurter Verlagsanstalt, 2015. 286 Seiten. Ab 14 Jahren.
Kurzrezension in «Bücher am Sonntag»
, 28.6.2015, S. 12. 

Wood, James. Die Kunst des Erzählens. Mit einem Vorwort von Daniel Kehlmann. Aus dem Englischen von Imma Klemm unter Mitwirkung von Barbara Hoffmeister. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2011.
Kurzrezension «Lesen in Nahaufnahme» in ph akzente 1 (2012): S. 37. 

Die Freunde von Klempnern

In Kurt Vonneguts Roman Slaughterhouse-Five (1969) wird die Hauptfigur Billy Pilgrim auf den Planeten Tralfamadore entführt. Die liebenswürdigen Ausserirdischen sind «two feet high, and green, and shaped like plumber’s friends». In der deutschen Übersetzung von Kurt Wagenseil aus dem Jahr 1972 und in der Neuausgabe von 2010 heisst es an dieser Stelle, dass die Tralfamadorianer «sechzig Zentimeter gross und grün – und wie ‹die Freunde von Klempnern› gestaltet waren».
Ich bin den «Freunden von Klempnern» erst bei der Übersetzungarbeit an David Lodges The Art of Fiction begegnet. In einer kurzen Passage über Vonneguts Roman und die Zeitreise seines Protagonisten werden die Tralfamadorianer dort als «little creatures who look like plumber’s friends with an eye on top» erwähnt. Nachdem ich die «plumber’s friends» an einer Stelle in Slaughterhouse-Five und anschliessend in der deutschen Ausgabe Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug ausfindig gemacht hatte, blieb ich aber unzufrieden. Die – in Anführungszeichen gesetzten – Freunde von Klempnern erschliessen sich den deutschsprachigen Leserinnen und Lesern nicht auf Anhieb. Ist es eine poetische Metapher? Oder eine feste Wendung?
Tatsächlich ist plumber’s friend oder plumber’s helper laut Wörterbuch eine informelle Bezeichnung für jenes Haushaltsgerät, das im Deutschen unter anderem Pümpel genannt wird: eine Saugglocke zur Abflussreinigung. Das passt zur weiteren Beschreibung bei Vonnegut: «Their suction cups were on the ground, and their shafts, which were extremely flexible, usually pointed to the sky. At the top of each shaft was a little hand with a green eye in its palm.» (Auf Deutsch: «Ihre Saugnäpfe ruhten auf dem Boden, und ihre Stiele, die äusserst biegsam waren, deuteten gewöhnlich zum Himmel. Oben an jedem Stiel befand sich eine kleine Hand mit einem grünen Auge in der inneren Handfläche.»)
Heute muss man plumber’s friend nur als Suchbegriff im Internet eingeben und schon finden sich neben lexikalischen Definitionen auch die passenden Illustrationen.

Tralfamadorians


P.S. In der Lodge-Übersetzung habe ich mich damals für «Saugstöpsel» entschieden, auch wenn die Leserinnen und Leser seiner Kunst des Erzählens (Haffmans 1993 u. Diana 1998) den Ausdruck in der Vonnegut-Übersetzung bei Rowohlt nicht antreffen würden – und weil ich mir nicht sicher war, ob sich bei der «Saugglocke» das richtige Bild (Gummiglocke samt Holzstiel) einstellt. Heute würde ich wohl den Pümpel bevorzugen und darauf hoffen, dass er es auch in die Neuübersetzung von Vonnegut schafft.

Daniel Ammann, 11.3.2015

Nachtrag am 12.2.2017

Mein Wunsch wurde erhört. Schlachthof 5 liegt inzwischen in einer neuen Übersetzung von Gregor Hens vor (Hoffmann und Campe, 2016). Die Tralfamadorianer heissen jetzt Tralfamadorier und ihre Beschreibung liest sich nun wie folgt:
«Sie seien gut sechzig Zentimeter groß und grün, hieß es in dem Brief, und ihre Form gleiche einem Pömpel. Sie stünden auf Saugnäpfen, und ihre Stiele, die äußerst biegsam seien, zeigten meistens in den Himmel. Am oberen Ende jedes Stiels befinde sich eine kleine Hand, in der Handfläche sei ein grünes Auge.»

Charles Bovary galoppiert

Charles Bovary galoppiert

Am liebsten ist es mir, wenn die Poesie wie eine Perle in der Prosa prunkt. Verborgen, damit ich sie beim aufmerksamen Lesen entdecke.
Flaubert macht es in seiner Madama Bovary (1857) so:
«Charles, à la neige à la pluie, chevauchait par les chemins de traverse.»

Elisabeth Edl weist im Kommentar ihrer hoch­ge­lobten Übersetzung (2012, 693) darauf hin, dass der Meister das ‹und› zwischen ‹à la neige à la pluie› erst in der Édition définitive von 1873 ge­strichen hat. Auch sie lässt uns in ihrer Version das Pferde­getrap­pel hören:

Form follows function. Im Deutschen scheinen die Konsonanten (g-p-b-g-b-b-b-k-g-g) den Galopp akustisch sogar noch kräftiger zu untermalen.
Walter Widmer schafft in seiner älteren Übersetzung (1959; dtv, 2006) zwar den Rhythmus, schwächt das akustische Bild aber durch festgefahrene Wortbilder: «Charles ritt währenddessen bei Regen und Schnee, bei Wind und Wetter über Stock und Stein.»
Beide liegen meilenweit über dem, was Arthur Schurig 1912 zu Wege brachte:
«Karl trabte indessen bei Wind und Wetter seine Landstrassen hin.»1 Der Sinn wird transportiert. Aber das war’s dann schon.

Daniel Ammann, 17.2.2015 (aktualisiert 18.5.2025)


  1. For comparison – Eleanor Marx Aveling’s English translation (1886; Barnes & Noble, 2005) runs like this: «Charles in snow and rain trotted across country.» ↩︎


Quellen:
Flaubert, Gustave. Madame Bovary. Herausgegeben u. übersetzt v. Elisabeth Edl. München: Hanser, 2012. 760 Seiten. 

Synchronesisch

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«Bastardwendungen oder cooles Alltagsdeutsch? Wie Synchronesisch unsere Sprache beeinflusst.»
Sprachspiegel 1 (2024): S. 2–19. 

Im «Sprachspiegel» (1/2024, S. 2–19) habe ich mich mit dem Phänomen «Synchronesisch» (engl. dubbese) und seinen Wechselwirkungen mit der Alltagssprache (und dem, was Eike Schönfeld «Bastard­wendungen» nennt) auseinandergesetzt. Dabei werfe ich am Beispiel einer Episode aus der Netfllix-Serie Designated Survivor (2016–2019) auch einen vergleichenden Blick auf die Untertitelung und schaue mir an, wie die literarische Übersetzer:innen von J. D. Salingers Klassiker The Catcher in the Rye (1951) mit dem Wörtchen «okay» umgehen.

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