Von Sinnen

perfect-sense-coverUnsere Sinne sind ein Tor zur Welt. Wenn sie ausfallen, entschwindet ein Stück Wirklichkeit.

Wie sich der Verlust einzelner Wahrnehmungen auswirkt, führt Regisseur David Mackenzie in seinem poetisch‑apokalyptischen Film Perfect Sense (GB 2011) drastisch vor Augen. In Glasgow und rund um den Globus tauchen immer mehr Menschen auf, die ihren Geruchssinn verloren haben. Die Epidemiologin Susan (Eva Green) steht vor einem Rätsel. Michael (Ewan McGregor) bekommt die Auswirkungen ebenfalls zu spüren. Im Restaurant, in dem er als Koch arbeitet, bleiben die Gäste aus.
Das ist erst der Anfang. Begleitet von heftigen Gefühlsausbrüchen verabschiedet sich als Nächstes der Geschmackssinn, und schliesslich vergeht den Men­schen Hören und Sehen. Die Welt droht in Panik, Chaos und Dunkelheit zu versinken.

Die Geschichte erinnert an José Saramagos Roman Die Stadt der Blinden und dessen beklemmende Verfilmung durch Fer­nando Meirelles (USA 2008). Während ein Mann auf das Umschalten der Ampel wartet, verliert er von einem Moment auf den anderen das Augenlicht und kurz darauf folgen jene, die mit ihm Kontakt hatten. Die Regierung sperrt die Erkrankten in ein leeres Irrenhaus, wo Mitgefühl rasch in Gewalt und Anarchie umschlägt.

Daniel Ammann

Aus: Akzente 1 (2015): S. 35.


Perfect Sense. Grossbritannien, Dänemark, Schweden, Irland 2011. Regie: David Mackenzie. Berlin: Senator Home Entertainment, 2012. DVD.
José Saramago. Die Stadt der Blinden. Übers. Ray G. Mertin. 18. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2008. 398 Seiten.
Blindness (Die Stadt der Blinden). USA 2008. Regie: Fernando Meirelles. Berlin: Arthaus, 2010, DVD.

Mehr als eine Wirklichkeit

Mehr als eine Wirklichkeit

«Mehr als eine Wirklichkeit.»
Akzente 1 (2024): S. 35.
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Die Wahrnehmung schliesst uns mit der Wirklichkeit kurz. Dennoch regen sich Zweifel, ob wir die Realität tatsächlich erfassen können oder ob sie nur eine Illusion im Schattentheater unseres Geistes bleibt.

In seinem Buch Anders sehen (Goldmann, 2018) öffnet uns der Neurowissenschaftler Beau Lotto anhand verblüffender Selbst­versuche Augen und Ohren. Das lüftet den einen oder anderen Wahrnehmungsschleier, ohne die Wirklichkeit zu entzaubern.

Auf ganz andere Weise zieht uns der schottische Autor J. O. Morgan in seinen Science-Fiction-Erzählungen den Boden unter den Füssen weg. Der Apparat (Rowohlt, 2023) entführt in eine Gegenwart, in der sich Objekte und später auch Menschen in Sekundenschnelle durch den Raum teleportieren lassen. Nicht alle sind von dieser bahnbrechenden Erfindung begeistert. Kommt am entfernten Ende wirklich alles an? Auch das Bewusstsein?

Mag sein, dass die Welt im Gehirn nur als virtuelle Realität existiert. Aber wie Thomas Fuchs in seiner beherzten Verteidigung des Menschen (Suhrkamp, 2020) darlegt, sind wir verkörpertes Bewusstsein. Wir leben in ständigem Austausch mit der Umgebung und anderen Wesen, was der Wahrnehmung eine erweiterte Objektivität verleiht.

So viel ist sicher: Nach der Lektüre dieser drei Bücher sehen wir die Wirklichkeit mit neuen Augen.
– Daniel Ammann


Literaturangaben

Beau Lotto
Anders sehen: Die verblüffende Wissenschaft der Wahrnehmung.
Mit zahlreichen Selbsttests.
Aus dem Englischen von Jens Hagestedt u. Katja Hald.
München: Goldmann, 2018. 448 Seiten.


J. O. Morgan
Der Apparat.
Aus dem Englischen von Jan Schönherr.
Hamburg: Rowohlt, 2023. 240 Seiten.


Thomas Fuchs
Verteidigung des Menschen: Grundfragen einer verkörperten Anthropologie.
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2311.
4. Aufl. Berlin: Suhrkamp, 2022. 331 Seiten.

Magoria by Daniel Ammann