Es war einmal ein Anfang

Es war einmal ein Anfang

«Es war einmal ein Anfang.» 
Akzente 3 (27.8.2020).
 blog.phzh.ch/akzente/2020/08/27/es-war-einmal-ein-anfang/

 Download

Von einem guten Anfang hängt so manches ab. Das gilt erst recht für den Roman. Der erste Satz kann bereits darüber entscheiden, ob weitergelesen wird. Für den ersten Eindruck gibt es bekanntlich keine zweite Chance. Aber vielleicht wird die Bedeutung des Einstiegs auch masslos überschätzt. Schliesslich beginnen unzählige Geschichten ganz unspektakulär und schlagen uns dann doch in ihren Bann.

In seinem abwechslungsreichen Spaziergang durch die Literaturgeschichte der ersten Sätze breitet der Literaturwissenschaftler Peter-André Alt in 250 kommentierten Textbeispielen ein breites Spektrum an Erzählanfängen vor uns aus. Die handverlesene Auswahl hat durchaus repräsentativen Charakter, denn die Beispiele – vom 8. Jh. v. Chr. bis ins Jahr 2015 – demonstrieren und dokumentieren die unterschiedlichsten Praktiken und Strategien des Anfangens. Ausser dem märchenhaften «Es war einmal» ist da so ziemlich alles vertreten: vom antiken Musenanruf des Dichters («Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes …») über atmosphärische Landschaftsbeschreibungen («Grobknochig wie ein aufgebahrtes Skelett liegen die Höhenzüge des Karsts zwischen der fetten friulanischen Ebene und den beginnenden Weiten des Balkan.») bis zum turbulenten Einstieg mit Cliffhanger («‹Um wiedergeboren zu werden›, sang Gibril Farishta, während er vom Himmel stürzte, ‹musst du erst sterben.›»). Mal werden Leserinnen und Leser brüsk vor den Kopf gestossen oder vor Rätsel gestellt («Ein Leben beginnt gewöhnlich mit der Geburt – meins nicht.»), mal verspricht man ihnen eine wahre Geschichte («Alles das hat sich mehr oder weniger zugetragen.») oder stellt eine grosse Offenbarung in Aussicht («Ihr Menschenbrüder, lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist.»).

Selbstverständlich dürfen in dieser Sammlung auch viele der berühmten und oft zitierten Beispiele aus der Weltliteratur nicht fehlen:

  • «In der ganzen Welt gilt es als ausgemachte Wahrheit, dass ein begüterter Junggeselle unbedingt nach einer Frau Ausschau halten muss.»
  • «Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Art.»
  • «Nennt mich Ismael.»
  • «Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.»
  • «Ich bin nicht Stiller.»
  • «Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden.»
  • «Zugegeben, ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt.»

Ein Anfang verspricht manchmal alles und hält zuweilen nichts. Dennoch hält sich hartnäckig der Mythos der fulminanten Eröffnung. Dabei liegt dem literarischen Anfang eine Täuschung zugrunde. Das Erzählen setzt willkürlich ein. Anders als das Leben haben erzählte Geschichten keinen naturgegebenen Beginn. Erst die narrative Gestaltung eines Story-Geschehens bereitet aus dem Rohmaterial eine Geschichte: mit Figuren, Handlungen, Erzählperspektive und einer einzigartigen Dramaturgie.

Was verraten uns die Romananfänge über die Texte und die Literaturgeschichte? Zum einen sicher, dass der Auftakt schon immer ein guter Wegbereiter und ein probates Lockmittel war, um Leserinnen und Leser über die Schwelle ins Reich der Fiktion zu ziehen.

Im einleitenden ersten Kapitel «Von der Schwierigkeit, mit dem Erzählen zu beginnen» spricht der Autor gleich die wichtigsten Themen an. Der Beginn sei ein Verführungsversuch, heisst es etwa, und damit der wichtigste Satz des ganzen Textes. Die folgenden vierzehn Kapitel erkunden sodann «Grundmuster des ersten Satzes, die sich durch die Vermittlung von Informationen, durch Modelle der Ankündigung, des plötzlichen Einstiegs, des Spannungsaufbaus, der Stimmungserzeugung, des Sprechakts, der ironischen Distanzierung und der Selbstreflexion definieren».

Alts Programm führt anschaulich vor Augen, dass der Auftakt je nach Habitus, Stil und Tonlage ganz Unterschiedliches auslöst, mal Erwartungen weckt und zum Weiterlesen motiviert, ein andermal bereits im kitschig missglückten Anfang verrät, dass von diesem Text nicht viel zu erwarten sei.

Daniel Ammann, 27.8.2020

Peter-André Alt
«Jemand musste Josef K. verleumdet haben …»: Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten.
München: C.H. Beck, 2020. 262 Seiten.

Siehe auch «Alles auf Anfang – eine kleine Poetik der ersten Sätze»

Kanonaden für die Literatur

Kanonaden für die Literatur

«Kanonaden für die Literatur.»
Akzente 3 (2020): S. 35.

Tobias Blumenberg
Der Lesebegleiter: Eine Entdeckungsreise durch die Welt der Bücher.
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2019. 777 Seiten.

Denis Scheck
Schecks Kanon: Die 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur; von «Krieg und Frieden» bis «Tim und Struppi».

München: Piper, 2019. 480 Seiten.

Tim Parks
Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen.
Aus dem Englischen von Ulrike Becker und Ruth Keen.
München: Kunstmann Verlag, 2016. 239 Seiten.

 blog.phzh.ch/akzente/2020/08/27/kanonaden-fuer-die-literatur/
Download

Hütet euch vor den Helden

Hütet euch vor den Helden

Autorinnen und Autoren können zu persönlichen Helden werden. Aber in ihren eigenen Romanen kommen sie mitunter ganz schlecht weg. Deshalb «Niemals den Helden begegnen», wie Henry David Thoreau in der Serie «Dickinson» zur Dichterin Emily Dickinson sagt.

«Hütet euch vor den Helden.» 

Neue Zürcher Zeitung 14.8.2020, S. 30.
 nzz.ch/feuilleton/

Die Dichterin Emily Dickinson (Hailee Steinfeld unter ihrer Eiche (Screenshot aus der TV-Serie «Dickinson», S1E04)

„Hütet euch vor den Helden“ weiterlesen

Die Ungeheuer unter dem Bett

Die Ungeheuer unter dem Bett
«Lauert das Ungeheuer unter dem Bett?» 

Neue Zürcher Zeitung 29.4.2020, S. 28. (Online 27.4.2020 unter dem Titel «Immer muss man damit rechnen, dass da ein Ungeheuer unter dem Bett lauert.»
 nzz.ch/feuilleton/

Kinderbücher sind voll von Gespenstern und Dämonen. Mit der Lust an der Angst lernen Kinder auch mit realen Ängsten und Nöten umzugehen.

      

Neil Gaiman: Coraline. Aus dem Amerikanischen von Cornelia Krutz-Arnold. Arena-Verlag, Würzburg 2009 (Verfilmung: Coraline. USA 2008. Regie und Buch: Henry Selick / DVD 2011).

Brian Selznick: Wunderlicht. Aus dem Amerikanischen von Uwe-Michael Gutzschhahn. Verlag CBJ, München 2012 (Verfilmung: Wonderstruck. USA 2017. Regie: Todd Haynes. Drehbuch: Brian Selznick)

Neal Shusterman: Kompass ohne Norden. Mit Illustrationen von Brendan Shusterman. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Hanser-Verlag, München 2018.

Lemony Snicket: Der Seufzersee. Eine Reihe betrüblicher Ereignisse. Band 3. Aus dem Amerikanischen von Klaus Weimann. Mit Illustrationen von Brett Helquist. Verlag CBJ, München 2009.

Covering Brandl

Covering Brandl

Daniel Ammann
Covering Brandl.
Mit zahlreichen Abbildungen und einem Nachwort von Mark Staff Brandl.
St. Gallen: Magoria, 2020. 56 Seiten.
ISBN 978-3-9524867-1-9 (Hardcover)  CHF 25.50 / € 17.80
Bestellen bei Tredition


Coverdesign: Studio Lametta.

Online bestellen

Was wir auf einem Bild oder einer Zeichenskizze als perfekte Linie und ebenmässigen Umriss wahrnehmen, erweist sich in der fraktalen Vergrösserung – gleich Mandelbrot’schen Küstenstrichen – als weit komplexer, löst sich aber gleichzeitig wieder auf, da die herausgelösten Details in der malerischen Nahaufnahme oder im Zoom neue Strukturen und Formen entstehen lassen. Chaos und Perfektion halten sich die Waage. («Entschleunigte Bilder», 1995)

Die Texte und Katalogessays zu Arbeiten des in der Schweiz ­lebenden US-amerikanischen Künstlers Mark Staff Brandl sind zwischen 1990 und 2012 entstanden.

Der Band enthält folgende Beiträge:

Wie ein Neanderthaler falsch belichtet
Like a Neanderthal in a Bad Light (in English)
Kunstschitterbiige (vgl. markstaffbrandl.com/kunstschitterbiig)
Sudden Departures 1981–1992 (in English)
Entschleunigte Bilder
Displaced Monochromes
Here Comes the Impuritan
Installation: My Metaphor(m)
Das Auge der Verfolgung
Epilogue by Mark Staff Brandl (in English)

Review by Anna Buschon Goodreads:

Daniel Ammann is an excellent creative writing and media theorist. This is a collection of essays he has written over 23 years about the art of Mark Staff Brandl. They are all insightful, but even better, they generally formally, playfully mirror the series he is discussing. Highly creative.

Magoria by Daniel Ammann