Wunderjahr 1922

«Wunderjahr.»
Akzente 3 (2023): S. 35.
blog.phzh.ch/akzente/2023/08/24/wunderjahr/
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1922 gilt als Annus mirabilis der Literatur. Der Ulysses von James Joyce und T. S. Eliots The Waste Land werden in einem Atemzug genannt. Innovativ, experimentell und in ihrer Vielstimmigkeit modern muten diese Titel heute noch an. So auch Mrs. Dalloway. Virginia Woolfs Roman erscheint zwar drei Jahre später, aber seine Entstehung fällt ebenfalls ins Jahr 1922. Dank der frischen Übersetzung von Melanie Walz darf dieses Meisterwerk nun wieder neu entdeckt werden (Manesse, 2022).

In seinem erzählenden Sachbuch 1922 (Luchterhand, 2022) nimmt Norbert Hummelt neben Joyce, Eliot und Woolf auch den damals im Wallis lebenden Dichter Rainer Maria Rilke in den Blick. In einem kalendarischen Kaleidoskop fügt Hummelt biografische Momentaufnahmen zu Mosaiken zusammen und lässt uns hautnah ins Wunderjahr der Worte eintauchen.

Wer hätte geahnt, dass sich 100 Jahre später noch ein Schweizer dazugesellt – kurz nachdem man die Zweihunderternote mit seinem Konterfei aus dem Verkehr gezogen hat. Sturz in die Sonne (Limmat, 2023) des Waadtländer Autors C. F. Ramuz erscheint jetzt erstmals auf Deutsch. Dass Ramuz damit den Klimaroman vorwegnehme, stimmt nur bedingt. Die apokalyptische Geschichte handelt eher von der in atavistische Aggression umschlagenden Apathie der Menschen im Angesicht des Todes. Durch einen Unfall im Gravitationssystem gerät die Erde aus ihrer Umlaufbahn und nimmt Kurs auf die Sonne.
– Daniel Ammann

Literaturangaben

Virginia Woolf
Mrs. Dalloway.
Aus dem Englischen übersetzt von Melanie Walz.
München: Manesse, 2022. 400 Seiten.

Norbert Hummelt
1922.
München: Luchterhand, 2022. 416 Seiten.

C. F. Ramuz
Sturz in die Sonne.
Übersetzt von Steven Wyss.
Zürich: Limmat, 2023. 192 Seiten.

Neue Briefromane

«E-Mails à gogo.»
Akzente 2 (2023): S. 35.
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Der Briefroman feiert ein Comeback und schlägt mit digitalem Pingpong ein zeitgemässes Tempo an. Daniel Glattauers E-Mail-Romanze Gut gegen Nordwind hat es inzwischen ins Kino und zu Netflix geschafft (Vanessa Jopp, 2019).

Ein schonungslos ehrlicher Briefwechsel, so heisst es in Zwischen Welten von Juli Zeh und Simon Urban, sei eine interessante Sache, man lerne eine Menge über sich selbst und die anderen (Luchterhand, 2023). Das gilt, wie der unzimperliche Titel vermuten lässt, auch für Liebes Arschloch von Virginie Despentes (Kiepenheuer & Witsch, 2023). Da wie dort nehmen die Figuren kein Blatt vor den Mund und verhandeln persönliche Midlife-Krisen und gesellschaftliche Themen unserer Zeit mit gnadenloser Direktheit.

Ebenso frisch und frech, aber weniger abgeklärt klingt es in Holly Goldberg Sloans und Meg Wolitzers turbulentem Jugendroman An Nachteule von Sternhai (Hanser, 2019). «Ich kenne dich nicht», beginnt die abenteuerlustige Bett ihre Mail an die altkluge und von Lebensängsten geplagte Avery. «Aber ich schreibe dir trotzdem.» Tatsächlich dreht sich zu Beginn alles darum, dass die zwölfjährigen Girls nichts miteinander zu tun haben wollen. Nur weil ihre alleinerziehenden Väter sich ineinander verliebt haben, muss das noch lange nicht bedeuten, dass die beiden Töchter sich kennenlernen und gleich Schwestern werden wollen. Ein fulminanter Auftakt, der hält, was er verspricht.
– Daniel Ammann

Literaturangaben

Gut gegen Nordwind.
Regie: Vanessa Jopp.
Deutschland 2019.
DVD Sony Pictures Home Entertainment und Netflix.

Juli Zeh und Simon Urban
Zwischen Welten.
München: Luchterhand Literaturverlag, 2023. 446 Seiten.

Virginie Despentes
Liebes Arschloch.
Aus dem Französischen von Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis.
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2023. 336 Seiten.

Holly Goldberg Sloan und Meg Wolitzer
An Nachteule von Sternhai.
Aus dem Englischen v. Sophie Zeitz.
München: Hanser, 2019. 288 Seiten.
Ab 10 Jahren.

Keine heile Welt

Keine heile Welt

«Keine heile Welt.»
Akzente 4 (2022): S. 39.
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Als Jugendliche war Mélanie von der Reality-Show «Big Brother» fasziniert, heute hat sie auf Youtube fünf Millionen Abonnent:innen und vermarktet via Instagram ihre Familie. Ihre beiden Kinder leben in einem permanenten Werbespot und kennen keine Privatsphäre. Mit Die Kinder sind Könige (Dumont, 2022) packt Delphine de Vigan ein brisantes Thema an. Was wie ein Krimi mit einem Entführungsfall beginnt, mündet in ein Plädoyer für Kinderrechte.

Auch Dieser Beitrag wurde entfernt (Hanser, 2022) von Hanna Bervoets wirft einen kritischen Blick hinter die Kulissen unserer Mediengesellschaft. Die Ich-Erzählerin Kayleigh arbeitet als Content-Moderatorin und muss in Akkordzeit verstörende Inhalte aus dem Internet löschen. Trotz strengen Richtlinien keine einfache Aufgabe. Wenn sich jemand in einem Kindergarten in die Luft sprengt, muss das Video entfernt werden – und zwar «aufgrund des Verbots terroristischer Propaganda, nicht etwa, weil es sich um Gewalt oder Kindesmisshandlung handelt».

Gut denkbar, dass auch das Video der Protagonistin in Julia von Lucadous Tick Tack (Hanser, 2022) auf Kayleighs Monitor landen würde. Darin kündigt die 15-jährige Mette an, dass sie sich gleich auf die U-Bahn-Gleise legt …

Die drei Romane zeigen, dass Literatur nicht nur Geschichten erzählt, sondern hautnah das Zeitgeschehen und unseren ambivalenten Umgang mit Medien einfängt.
– Daniel Ammann

Literaturangaben

Delphine de Vigan
Die Kinder sind Könige.
Aus dem Französischen von Doris Heinemann.
Köln: Dumont, 2022. 320 Seiten.

Hanna Bervoets
Dieser Beitrag wurde entfernt.
Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten.
Berlin: Hanser, 2022. 112 Seiten.

Julia von Lucadou
Tick Tack.
Berlin: Hanser, 2022. 256 Seiten.

Magoria by Daniel F. Ammann