Faszination des Schreibens

Faszination des Schreibens

Akzente 3 (2024).
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Benedict Wells wollte sich eine Auszeit vom Schreiben nehmen und stolperte in ein neues Buch über das Schreiben. Im Grundton und Aufbau folgt er darin Stephen Kings On Writing: A Memoir of the Craft (2000; dt. Das Leben und das Schreiben), einem unbestrittenen Klassiker des Genres. Auch Wells beginnt mit Autobiografischem. Er blickt zurück auf seine Kindheit und Jugend, erzählt von schwierigen Anfängen und berichtet zwischen schonungsloser Selbstkritik und Ironie, wie er zum Schreiben fand und erst nach zahlreichen Rückschlägen damit Erfolg hatte. «Ich habe Geschichten erfunden», gesteht er im Vorwort, «weil ich meine eigene lange nicht erzählen konnte.»

Teil zwei widmet sich dann in einer Mischung aus Poetikvorlesung und Schreibratgeber den Verfahren und Fallstricken des literarischen Schreibens. Es sind persönliche Schlaglichter, die zwar nicht durchwegs neue Tipps und Einsichten vermitteln, aber in der Verbindung einschlägiger Quellen mit eigenen Schreiberfahrungen und anhand konkreter Textbeispiele aufzeigen, dass es nicht nur den einen richtigen Weg gibt. Scheitern und Durchhaltewillen gehören unweigerlich dazu. Denn – Talent hin oder her – Schreiben bedeutet harte Arbeit. Selbst wenn man von Mal zu Mal dazulernt, die Abläufe kennt und routinierter vorgeht, bedeutet ein neues Buch, dass man wieder ganz von vorne beginnt und vor Fehlern nicht gefeit ist.

Benedict Wells möchte «an der Vorstellung von Autor:innen als Genies im stillen Kämmerchen rütteln» und zeigt die handwerklichen Aspekte und zähen Phasen des Schreibens auf. Vom anfänglichen Funken bis zum fertigen Manuskript und dem veröffentlichten Buch ist es ein weiter Weg, ganz nach dem Motto: «Man kann beim Schreiben alles überarbeiten – ausser weisse Seiten.»

Daniel Ammann, 23.8.2024


Benedict Wells.
Die Geschichten in uns: Vom Schreiben und vom Leben.
Zürich: Diogenes, 2024. 400 Seiten.

Es gibt keine Anfänge

Es gibt keine Anfänge
Es gibt keine Anfänge

Zu den Anfängen mit Namensvorstellung kommen wir bei anderer Gelegenheit.1 Hier geht es mir um die präventive Ankündigung der Geschichte, um den Vorbehalt, das Caveat. Die Ich-Erzählerin in Eva Rottmanns Jugendroman Kurz vor dem Rand (Jacoby & Stuart, 2023) steigt mit einer Triggerwarnung ein. Wir sollen uns darauf gefasst machen, dass die Sache schlecht ausgeht. Das weckt unsere Neugierde – und vielleicht auch leise Zweifel. 

Den gleichen rhetorischen Trumpf spielt Daniel Handler (alias Lemony Snicket) im ersten Band seiner «Reihe betrüblicher Ereignisse» aus. Der schreckliche Anfang (The Bad Beginning, dt. v. Klaus Weimann) beginnt so:

Wenn du gern Geschichten mit einem Happy End liest, solltest du lieber zu einem anderen Buch greifen. In diesem gibt es kein Happy End, auch keinen glücklichen Anfang und nur wenig Erfreuliches mittendrin. 

Damit hat uns auch diese Geschichte an der Angel. Wie sagt doch Lord Henry in Oscar Wildes Roman zu Dorian Gray: «Eine Versuchung wird man nur los, indem man ihr nachgibt.» Ein Buch, vor dem wir ausdrücklich gewarnt werden, einer Lektüre, von der uns sogar abgeraten wird, stellt zweifellos eine Verlockung dar, der wir kaum widerstehen können. Wir möchten weiterlesen. Jetzt erst recht. Würde uns hingegen die beste aller Geschichten angepriesen, das grösste Lese-Erlebnis aller Zeiten versprochen, wäre die Antwort wohl eher ein «Vergiss es!». Immerhin wissen wir, was von solch vollmundigen Werbeversprechen zu halten ist.  

Lemony Snicket’s A Series of Unfortunate Events (USA 2004. Regie: Brad Silberling)

Aber schauen wir zuerst, wie das im Einzelnen funktioniert. Während uns Handler auf das unglückselige Leben der Baudelaire-Kinder vorbereitet («Fast alles, was ihnen zustiess, strotzte nur so vor Unheil, Elend und Verzweiflung.») setzt Eva Rottmann noch einen drauf, wenn Ari in rotzigem Ton beifügt, dass wir auf eigene Verantwortung handeln: «Es ist mir ehrlich gesagt scheissegal. Ihr könnt das machen, wie ihr wollt. Ich sag euch einfach, was auf euch zukommt.» Von Bevormundung hält sie – wie sich zeigen wird – definitiv nichts. Damit gibt uns die Ich-Erzählerin auch gleich eine Kostprobe ihrer harten Schale (unter der wir selbstverständlich etwas Empfindsames vermuten).

Hinzu kommt bald eine Lebensweisheit, die man durchaus als poetologisches Programm oder Erzählprinzip deuten darf:

Ich habe überlegt, wie ich anfangen soll, und dann ist mir eingefallen, was Tom mal gesagt hat. Dass es nämlich gar keine Anfänge gibt.

Geschickt verpackt sie darin eine inhaltliche Anspielung. Geht es also um Ari und Tom? Ist das die Lovestory ohne Happy End?

Wenn das Ende nicht gut ist, ist es vielleicht noch nicht das Ende

Als das grosse rote Buch, in dem Ari ihre Erlebnisse aufschreibt, fast voll ist, erreicht die Geschichte zwar ihren vorläufigen Schluss. Aber so wie es keine Anfänge gibt, ist mit dem fehlenden Happy End noch nicht das letzte Wort gesprochen. Ari liest noch einmal die beiden Anfangssätze ihres ersten Eintrags und muss plötzlich lachen. 

Eva Rottmann
Kurz vor dem Rand.
Berlin: Verlagshaus Jacoby & Stuart, 2023. 192 Seiten. Ab 14 Jahren.

  1. Herman Melvilles Moby-Dick mit seinem weltberühmten Anfangssatz wird uns sicher noch beschäftigen, aber um es für den Moment mit Melvilles Bartleby zu sagen: «Ich möchte lieber nicht.»  ↩︎

Kritik als Kunst

Kritik als Kunst

«Wer hat je innegehalten, um die Form oder den Tonfall einer Rezension oder eines kritischen Essays zu bewundern?» Die Frage des New Yorker Filmkritikers Anthony Scott ist berechtigt. Besprechungen von Filmen, Büchern, Theateraufführungen, Konzerten oder Ausstellungen werden als Orientierungshilfe geschätzt, beeinflussen als Verriss oder Lobeshymne vielleicht den Erfolg eines Werks. Aber als eigene Kunstform, wie das schon der berühmte Kritiker und Journalist Alfred Kerr (1867–1948) gefordert hat, wird die Kritik kaum gewürdigt.

Dazu passt auch Ernest Hemingways Bemerkung in A Moveable Feast, als er einem Freund den Rat gibt: «Pass auf, wenn du nicht schreiben kannst – wie wär’s, wenn du’s mal mit Rezensionen versuchen würdest? […] Dann hast du immer was zu schreiben. Du brauchst dir nie mehr Sorgen zu machen, dass nichts mehr kommt, dass du stumm und still geworden bist. Und du hast Leser und Anerkennung.»

Ernest Hemingway in Paris, ein Fest fürs Leben. Deutsch von Werner Schmitz. (Rowohlt 2011)

 Noch immer haftet der Kritik das Image der Unkreativität an. Ohne all die kreativen Beiträge, heisst es gerne, hätten die Kritikerinnen und Kritiker gar nichts, worüber sie schreiben könnten. Ausserdem, so Scott, bedeutet kritisieren für viele, «dass man etwas auszusetzen hat, dass man das Negative betont, den Spass verdirbt und sich weigert, auf empfindliche Gefühle Rücksicht zu nehmen.» Dabei sollte man sich für die Kritik durchaus stark machen, wie das in diesem anregenden und aufschlussreichen Buch geschieht. Im Zeitalter der Meinungsmache und Gefällt-mir-Klicks geht gern vergessen, dass Kritik nicht nur Stellung bezieht, sondern Massstäbe anlegt, ohne die ein begründetes Urteil gar nicht möglich ist. Kritik schärft die Wahrnehmung und ebnet den Weg für einen Diskurs.

In seinen Ausführungen und ironischen Selbstgesprächen schüttet Anthony Scott nicht nur sein Herz aus, sondern zeigt auf, welch wichtige Rolle die Kritik seit Jahrhunderten spielt. Viele bedeutende Kritiker, wie die Kulturgeschichte belegt, waren selbst Künstler und umgekehrt. Charles Baudelaire schrieb über moderne Malerei, der Lyriker Philip Larkin über Jazz. Auch Regisseure wie Godard, Chabrol oder Truffaut haben als Filmkritiker angefangen. Das mögen Ausnahmeerscheinungen sein, wie Scott eingesteht, aber in erster Linie sei die Kritik eine «Disziplin des Schreibens» und der Kritiker «eine besondere Spezies der Gattung Schriftsteller». Etwas heruntermachen, bemängeln und anfeinden ist keine Kunst, gute Kritik jedoch erfordert Argumente, klare Begriffe und vor allem Unterscheidungsmerkmale, sprich: Kriterien. Über Geschmack lässt sich nicht streiten – über Kritik schon.

Daniel Ammann, 23.2.2018

«Über Kritik lässt sich streiten.»
Akzente 1 (23.2.2018).

doi.org/10.5281/zenodo.1250755
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Anthony O. Scott
Kritik üben: Die Kunst des feinen Urteils.
Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer.
München: Carl Hanser, 2017. 320 Seiten.

Wörter auf Reisen

  

Manchmal fehlen uns buchstäblich die Worte. Da müssen keine überwältigenden Gefühle im Spiel sein. Es kann schlicht vorkommen, dass sich im umfangreichen Lexikon unserer Sprache kein geeigneter Ausdruck findet.

In ihrem liebevoll gestalteten Buch Lost in Translation (DuMont 2017) porträtiert Ella Frances Sanders 51 Wortperlen aus der ganzen Welt, für die es in anderen Sprachen keine passende Entsprechung gibt. Sollte das illustrierte Bändchen wider Erwarten in einem Stapel ungelesener Bücher landen, so haben die Japaner dafür wenigstens ein Wort: Tsundoku.

Mit Total verrückte Wörter (360 Grad Verlag 2018) legen Nicola Edwards und ihre Illustratorin Luisa Uribe ebenfalls eine bunte Sammlung unübersetzbarer Wörter aus aller Welt vor. Kinder ab 8 Jahren lernen hier nicht nur 29 exotische Begriffe kennen, sondern erfahren in informativen Kurztexten einiges über die verschiedenen Herkunftsländer, deren Sprachen und Gebräuche. Jemanden, der schnell friert, nennt man im Spanischen «friolero». Oder haben doch die Schweizer den «G’frörlig» erfunden?

Ein Blick in Versunkene Wort-Schätze (Dudenverlag 2016) zeigt, dass wir mitnichten in die Ferne schweifen müssen, um einheimische Wortlücken zu füllen. Die Fundgrube überjähriger Vokabeln dokumentiert schnurrige Idiome, Redeblumen und jede Menge Wörter, die zusehends in Vergessenheit geraten und uns womöglich bald fehlen werden. Manch ein Ausdruck, der weiland à la mode war, könnte uns hinfort wieder zupasskommen oder gleichwohl für mehr lexikalische Vielfalt sorgen.

Daniel Ammann
Erschienen in: Akzente 1 2019): S. 35.
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Ella Frances Sanders
Lost in Translation: Unübersetzbare Wörter aus der ganzen Welt
Aus dem Englischen von Marion Herbert. Köln: DuMont, 2017. 112 Seiten.

Nicola Edwards
Total verrückte Wörter: Eine Sammlung unübersetzbarer Wörter aus aller Welt. Illustrationen von Luisa Uribe. Aus dem Englischen von Beatrix Rohrbacher. Schriesheim: 360 Grad Verlag, 2018. 64 Seiten. Ab 8 Jahren.

Versunkene Wort-Schätze: Wörter, die uns fehlen werden.
Berlin: Dudenverlag, 2016. 133 Seiten.

A Piece of Cake oder Übersetzen ist wie Gummitwist

Übersetzen ist wie Gummitwist – und trotzdem kein Kinderspiel.

Im Folgenden soll es jedoch nicht um ein children’s game wie Chinese jump rope, sondern um child’s play gehen, also etwas das kinder­leicht ist.

Wie im Deutschen das Kinderspiel so kann im Englischen die Wendung a piece of cake mal wörtlich, mal übertragen gemeint sein.

Wenn es in E. M. Forsters Roman Howards End heisst: «There she sat, a piece of cake in one hand, an empty champagne glass in the other», so dürfen wir uns ein Stück Kuchen vorstellen. «Da sass sie nun», übersetzt also Egon Pöllinger, «ein Stück Kuchen in der einen Hand, ein leeres Sektglas in der andern» (Wiedersehen in Howards End).

In der Hillbilly-Elegie von J.D. Vance fallen hingegen keine Krümel, denn hier geht es nicht um einen richtigen Cake (wie er in der Schweiz heisst). Aber auch das ist für den Übersetzer Gregor Hens nur ein Klacks:

«My schedule was intense, but everything that had made me fear the independent college life when I was eighteen felt like a piece of cake now.»
«Die Tage waren vollgepackt, aber alles, was ich mit achtzehn an der Unabhängigkeit des Studentenlebens gefürchtet hatte, war jetzt ein Kinderspiel.»

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Es wäre schon praktisch, wenn im Deutschen ebenfalls eine essbare Metapher zur Verfügung stünde, aber Übersetzen ist eben kein Honiglecken (not a piece of cake)! – Ich habe dazu ein paar Stichproben gemacht, aber wo immer in der Übersetzung von Honiglecken die Rede war, gab es im Original keinen cake:
«no fuckin’ Mardi Gras» (Julie Powell, Julie & Julia; Übers. Andrea Ott),
«no picnic» (Paul Auster, Mr. Vertigo; Übers. Werner Schmitz ),
«a taste of honey!» (David Mitchell, Der Wolkenatlas; Übers. Volker Oldenburg).

«Du meinst, es ist kein Honiglecken? Du hast ‹Zuckerschlecken› gesagt», korrigierte Farrokh seinen Freund.
«Das ist doch dasselbe», erwiderte Macfarlane.
(John Irving, Zirkuskind; Übers. Irene Rumler)

Im Original:

«Don’t you mean it’s no picnic? You said ‹no circus›», Farrokh told Mac.
«It’s the same expression», Macfarlane replied.

Auch nicht überall, wo im Deutschen Kinderspiel steht, verbirgt sich im Englischen das sprichwörtliche Stück Kuchen: «His arms to the shoulders and most of the legs beneath the knee were child’s play», heisst es in The Pale King von David Foster Wallace. In Paul Austers New-York-Trilogie hätte die umgangssprachliche Wendung a piece of cake womöglich das falsche Register angeschlagen: «Picking the lock on the front door is child’s play for Blue …»

Übersetzen ist wohl doch kein Kinderspiel à la Gummitwist – eher wie «Himmel und Hölle»!

Aber in Anlehmung an Bern Rullkötters Übersetzung von Peter Ackroyds Chatterton dürfen die Übersetzerinnen und Übersetzer auf keinen Fall klein beigeben – oder wie der Engländer sagt: eat humble pie:

«Dann sollen sie doch Kuchen essen.» («Let them eat cake», she said.)
«Meinen Sie nicht: kleine Brötchen backen?» («Don’t you mean humble pie?»)

Daniel Ammann, 4.1.2019

Magoria by Daniel Ammann