Wissenschaftlich erzählen – literarisch überzeugen

Wissenschaftlich erzählen – literarisch überzeugen

Daniel Ammann, Erik Altorfer, Gisela Bürki und Alex Rickert, Hrsg.
Wissenschaftlich erzählen – literarisch überzeugen: Kreativ schreiben in der Hochschule.

Bern: hep Verlag, 2023. 155 Seiten.  
ISBN 978-3-0355-2350-8
Beim Schreiben kann man alles falsch, aber nie alles richtig machen. Im literarischen und wissenschaftlichen Schreiben sind Regeln wichtig, aber vielmehr noch die Kreativität. Auch ein Fachtext erzählt, und ein Roman antwortet auf Fragen. Betreuende von wissenschaftlichen Arbeiten, Schreibcoachs und Lektor*innen zeigen in ihren Beiträgen, dass kreatives Schreiben in allen Formaten ein unverzichtbares Denk-, Lern- und Ausdrucksinstrument ist.
 hep-verlag.ch/wissenschaftlich-erzaehlen
(Open Access)

Das Buch «Wissenschaftlich erzählen – literarisch überzeugen».

Mit Beiträgen von: Erik Altorfer, Daniel Ammann, Sieglinde Geisel, Hildegard E. Keller, Kirsten Schindler, Nadja Sennewald, Gerhild Steinbuch, Jacob Teich, Vincenzo Todisco, Philip Ursprung und künstlerischen Intermezzos von Katja Brunner, Simon Froehling, Peter von Matt, Martina Meienberg, Fatima Moumouni, Melinda Nadj Abonji, Usama Al Shahmani, Tabea Steiner, Franco Supino, Peter Weber (Gestaltung Matthias Gnehm). Erschienen und auch als Open-Access Publikation erhältlich im hep Verlag.

Enthält:
Daniel Ammann: «Mit einer Frage fängt es an: Erkenntnis durch Schreiben.» Wissenschaftlich erzählen – literarisch überzeugen: Kreativ schreiben in der Hochschule. Bern: hep Verlag, 2023. S. 20–33.
magoria.ch/dam/mit-einer-frage-faengt-es-an
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Am Anfang steht eine Frage, ein Rätsel, ein Geheimnis. Kein Text entsteht aus dem Nichts. Es braucht ein Motiv, einen Impuls, ein Problem. Als Initialzündung reicht das Staunen oder der Wunsch, eine Erscheinung zu durchdringen und begreifen zu können. Schon Aristoteles hält zu Beginn seiner Metaphysik fest, dass der Mensch von Natur aus nach Wissen strebt. Die Suche nach Erklärungen und Erkenntnissen ist keineswegs den Wissenschaften vorbehalten. Fragen, so meine Prämisse, sind die Triebfeder jeder Erzählung.

Mit einer Frage fängt es an

Schiesswütiges Amerika

«Schiesswütiges Amerika.»
 Akzente 2 (2023): S. 34.
blog.phzh.ch/akzente/2024/05/27/schiesswuetiges-amerika/
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Krimis wiegen uns in Sicherheit. Wir müssen nicht fürchten, dass sich bei der fiktionalen Schiesserei eine Kugel in unser Wohnzimmer verirrt oder unter dem Sofa plötzlich ein Sprengsatz detoniert. Die Bluttaten im Unterhaltungsprogramm sind gewissermassen harmlos. Kaum laufen aber die Nachrichten über den Bildschirm, ist es mit dem Spass vorbei. Krieg, Amokläufe, Terroranschläge, Attentate und Morde sind an der Tagesordnung. Rund vierzigtausend Amerikaner:innen, resümiert Paul Auster in seinem ebenso politischen wie persönlichen Essay, verlieren jährlich durch Schussverletzungen ihr Leben. Hinzu kommen doppelt so viele Verletzte, die oft lebenslang unter Folgeschäden zu leiden haben. Auster macht klar, dass rigorose Gesetze daran wenig zu ändern vermöchten. Spencer Ostranders Schwarzweissfotos zeigen scheinbar friedliche Schauplätze – Tatorte früherer Massentötungen, nachdem die Spuren beseitigt wurden.
– Daniel Ammann

Paul Auster
Bloodbath Nation.
Mit Fotos von Spencer Ostrander. Aus dem Englischen von Werner Schmitz.
Hamburg: Rowohlt, 2024. 188 Seiten.

Vom Lesen zum Schreiben

Lesen als Schreibschule

«Von Meistern lernen.»
Akzente 1 (23.2.2024).

 blog.phzh.ch/akzente/2024/02/23/von-meistern-lernen
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Normalerweise können wir den Autor:innen beim Schreiben nicht über die Schulter schauen. Aber hin und wieder verraten sie uns in Poetikvorlesungen, Interviews, Briefen oder nachgelassenen Notizbüchern, wie die Arbeit vonstatten ging, wo ein Schreibprojekt seinen Anfang nahm und welche künstlerischen Entscheidungen sie treffen mussten. Was wir allerdings immer bekommen, sind die fertigen Texte. Wir brauchen sie nur genau zu lesen und die richtigen Fragen zu stellen. «Wenn es eine Erzählung schafft, uns hineinzuziehen und weiterlesen zu lassen, und uns das Gefühl gibt, ernst genommen zu werden, wie macht sie das?»

Ausgehend von dieser und weiteren Fragen hat Autor und Universitätsdozent George Saunders sein Programm des genauen Lesens entwickelt. Über zwanzig Jahre hat er an der Syracuse University im Bundesstaat New York angehende Schriftsteller:innen in Creative Writing unterrichtet. Die Essenz seiner Close-Reading-Methode liegt nun unter dem Titel Bei Regen in einem Teich schwimmen (Orig. A Swim in a Pond in the Rain) als Buch vor.

Saunders nimmt darin sieben klassische Kurzgeschichten der grossen russischen Schriftsteller Anton Tschechow, Iwan Turgenjew, Leo Tolstoi und Nicolai Gogol unter die Lupe und führt uns Schritt für Schritt durch die Lektüre. Es geht darum, die «Physik des Genres» zu begreifen und herauszufinden, wie die Meister zu Werke gehen und auf welche Weise die Texte ihre einzigartige Wirkung entfalten. Ein besonderes Augenmerk legt Saunders dabei auf Figuren und Handlung, sich verändernde Leseerwartungen sowie Muster, die sorgfältig etabliert und alsdann kunstvoll variiert oder unterlaufen werden.

Bei diesen rezeptions­ästhetischen Tiefenbohrungen kommt Saunders erstaunlicherweise ohne die üblichen Begrifflichkeiten der Erzähltheorie aus. Er sei, wie er eingangs betont, kein Kritiker, kein Literaturwissenschaftler oder Experte für russische Literatur. Vielmehr geht es ihm darum, was wir beim Lesen gefühlt haben, und an welcher Stelle wir es gefühlt haben. Denn jede schlüssige Denkarbeit beginne mit einer echten Reaktion.

Überträgt man das auf das eigene Schreiben, lautet die wichtigste Frage: «Was hält einen Leser bei der Stange? Oder genauer: Was hält meinen Leser bei der Stange? (Was trägt und treibt einen Leser durch meine Prosa voran?)» Das Überarbeiten des Textes wird damit zu einer Übung in Beziehungspflege.
Der gemeinsame Spaziergang durch die meisterhaften Erzählungen ist ein besonderer Genuss und eine Leseschule obendrein. Laut Saunders sollen wir die Texte durchaus daraufhin lesen, «was wir bei ihnen klauen können». Und damit wir nach der Tiefenlektüre eine Brücke zum eigenen Schreiben schlagen, gibt er uns nicht nur Tipps auf den Weg, sondern fügt im Anhang drei handwerkliche Übungen bei.
– Daniel Ammann

George Saunders
Bei Regen in einem Teich schwimmen: Von den russischen Meistern lesen, schreiben und leben lernen.
Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert.
München: Luchterhand, 2022. 544 Seiten.

Wunderjahr 1922

Wunderjahr 1922

«Wunderjahr.»
Akzente 3 (2023): S. 35.
blog.phzh.ch/akzente/2023/08/24/wunderjahr/
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1922 gilt als Annus mirabilis der Literatur. Der Ulysses von James Joyce und T. S. Eliots The Waste Land werden in einem Atemzug genannt. Innovativ, experimentell und in ihrer Vielstimmigkeit modern muten diese Titel heute noch an. So auch Mrs. Dalloway. Virginia Woolfs Roman erscheint zwar drei Jahre später, aber seine Entstehung fällt ebenfalls ins Jahr 1922. Dank der frischen Übersetzung von Melanie Walz darf dieses Meisterwerk nun wieder neu entdeckt werden (Manesse, 2022).

In seinem erzählenden Sachbuch 1922 (Luchterhand, 2022) nimmt Norbert Hummelt neben Joyce, Eliot und Woolf auch den damals im Wallis lebenden Dichter Rainer Maria Rilke in den Blick. In einem kalendarischen Kaleidoskop fügt Hummelt biografische Momentaufnahmen zu Mosaiken zusammen und lässt uns hautnah ins Wunderjahr der Worte eintauchen.

Wer hätte geahnt, dass sich 100 Jahre später noch ein Schweizer dazugesellt – kurz nachdem man die Zweihunderternote mit seinem Konterfei aus dem Verkehr gezogen hat. Sturz in die Sonne (Limmat, 2023) des Waadtländer Autors C. F. Ramuz erscheint jetzt erstmals auf Deutsch. Dass Ramuz damit den Klimaroman vorwegnehme, stimmt nur bedingt. Die apokalyptische Geschichte handelt eher von der in atavistische Aggression umschlagenden Apathie der Menschen im Angesicht des Todes. Durch einen Unfall im Gravitationssystem gerät die Erde aus ihrer Umlaufbahn und nimmt Kurs auf die Sonne.
– Daniel Ammann

Literaturangaben

Virginia Woolf
Mrs. Dalloway.
Aus dem Englischen übersetzt von Melanie Walz.
München: Manesse, 2022. 400 Seiten.

Norbert Hummelt
1922.
München: Luchterhand, 2022. 416 Seiten.

C. F. Ramuz
Sturz in die Sonne.
Übersetzt von Steven Wyss.
Zürich: Limmat, 2023. 192 Seiten.

Magoria by Daniel Ammann