Kilian Hauptmann, Philipp Pabst und Felix Schallenberg, Hrsg. Anthologieserie: Systematik und Geschichte eines narrativen Formats. Marburg: Schüren Verlag, 2022. 270 Seiten.
1922 gilt als Annus mirabilis der Literatur. Der Ulysses von James Joyce und T. S. Eliots The Waste Land werden in einem Atemzug genannt. Innovativ, experimentell und in ihrer Vielstimmigkeit modern muten diese Titel heute noch an. So auch Mrs. Dalloway. Virginia Woolfs Roman erscheint zwar drei Jahre später, aber seine Entstehung fällt ebenfalls ins Jahr 1922. Dank der frischen Übersetzung von Melanie Walz darf dieses Meisterwerk nun wieder neu entdeckt werden (Manesse, 2022).
In seinem erzählenden Sachbuch 1922 (Luchterhand, 2022) nimmt Norbert Hummelt neben Joyce, Eliot und Woolf auch den damals im Wallis lebenden Dichter Rainer Maria Rilke in den Blick. In einem kalendarischen Kaleidoskop fügt Hummelt biografische Momentaufnahmen zu Mosaiken zusammen und lässt uns hautnah ins Wunderjahr der Worte eintauchen.
Wer hätte geahnt, dass sich 100 Jahre später noch ein Schweizer dazugesellt – kurz nachdem man die Zweihunderternote mit seinem Konterfei aus dem Verkehr gezogen hat. Sturz in die Sonne (Limmat, 2023) des Waadtländer Autors C. F. Ramuz erscheint jetzt erstmals auf Deutsch. Dass Ramuz damit den Klimaroman vorwegnehme, stimmt nur bedingt. Die apokalyptische Geschichte handelt eher von der in atavistische Aggression umschlagenden Apathie der Menschen im Angesicht des Todes. Durch einen Unfall im Gravitationssystem gerät die Erde aus ihrer Umlaufbahn und nimmt Kurs auf die Sonne. – Daniel Ammann
Literaturangaben
Virginia Woolf Mrs. Dalloway. Aus dem Englischen übersetzt von Melanie Walz. München: Manesse, 2022. 400 Seiten.
Alberto Manguel Fabelhafte Wesen: Dracula, Alice, Superman und andere literarische Freunde. Aus dem Englischen von Achim Stanislawski. Mit Zeichnungen des Autors. Zürich: Diogenes, 2022. 255 Seiten.
Soll man irgendwann aufhören, den zahlreichen Neuerscheinungen hinterherzuhetzen, und sich stattdessen auf das Wiederlesen vertrauter Bücher verlegen? So wie man nicht zwei Mal in den gleichen Fluss steigt, verhält es sich auch mit Lektüren.
Davon erzählt die passionierte Wiederholungsleserin und Autorin Vivian Gornick in Offene Fragen (Penguin, 2022). Wenn sie nach Jahren erneut zum gleichen Buch greift, haben sich die Zeichen auf dem Papier nicht verändert. Vielmehr spiegelt sich im alten Text ein neues Ich und lässt die Leserin in der aktuellen Lebensphase eine andere Geschichte entdecken.
Von intimen und erhellenden Begegnungen mit Texten berichten auch die vierundzwanzig Autorinnen und Autoren in Warum Lesen: Mindestens 24 Gründe (Suhrkamp, 2020; herausgegeben von Katharina Raabe und Frank Wegner). Lesen trennt und verbindet, betont etwa Annie Ernaux. Es koppelt uns vom Alltag ab, lässt fremde Stimmen ins Bewusstsein ein. Gleichzeitig rückt uns Literatur der Welt näher, denn sie gewährt Einblicke ins Leben, Denken und Fühlen von anderen und verschafft vielfältige ästhetische und verdichtete Erfahrungen.
Wiederlesen lohnt sich. Das mag einer der Gründe sein, weshalb die befragten Schriftstellerinnen und Schriftsteller in François Armanets Bücher für die einsame Insel (Atlantik, 2017) lauter Titel nennen, die sie bereits kennen. Salman Rushdie entscheidet sich wenig überraschend für «Tausendundeine Nacht». Und für Margaret Atwood ist es an der Zeit, wieder einmal «Moby Dick» zu lesen, weil dieser Roman für sie alle zehn Jahre einen neuen Sinn erhält. – Daniel Ammann
Literaturangaben
Vivian Gornick Offene Fragen: Notizen einer passionierten Wiederholungsleserin. Aus dem amerikanischen Englisch von Pociao. München: Penguin, 2022. 173 Seiten.
Warum Lesen: Mindestens 24 Gründe. Herausgegeben und mit einer Nachbemerkung von Katharina Raabe und Frank Wegner. Berlin: Suhrkamp, 2020. 347 Seiten.
François Armanet Bücher für die einsame Insel. Aus dem Französischen, Englischen und Spanischen von Claudia Steinitz und Angela Volknant. Hamburg: Atlantik, 2017. 215 Seiten.
Blackout.
Deutschland 2021. Miniserie, 6 Folgen.
Regie: Lancelot von Naso.
Marc Elsberg
Blackout: Morgen ist es zu spät.
München: Blanvalet, 2021. 896 Seiten.
Don DeLillo Die Stille.
Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert.
Köln: Kiepenheuer und Witsch Verlag, 2020. 112 Seiten.
Denis Newiak Blackout – Nichts geht mehr: Wie wir uns mit Filmen und TV-Serien auf einen Stromausfall vorbereiten können.
Marburg: Schüren Verlag, 2022. 252 Seiten.
David Eagleman und Anthony Brandt Kreativität: Wie unser Denken die Welt immer wieder neu erschafft.
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer.
München: Siedler, 2018. 288 Seiten.