Der übergrosse Gatsby

Der übergrosse Gatsby

«Natürlich ist es die Stimme des Erzählers, die einen lockt und verführt und deren Klang zugleich schon die Belohnung ist», schreibt Claudius Seidl im Nachwort zur aktuellen Neuübersetzung von F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby. Bereits Baz Luhrmann hat in seiner Filmadaption von 2013 auf diese Stimme gesetzt.

Der Film beginnt im Voice-over mit dem Anfang des Romans und führt Nick Carraway (Tobey Maguire) als traumatisierten Erzähler und Schriftsteller ein. Am Ende liegt seine Geschichte mit dem Titel «Gatsby» als fertiges Typoskript auf dem Tisch. Einer letzten Eingebung folgend fügt er auf dem Titelblatt von Hand zwei weitere Worte hinzu und macht daraus «The Great Gatsby».1

Der übergrosse Gatsby

Der erste Satz und Absatz des Romans ist natürlich nur der halbe Anfang, denn man möchte schon erfahren, worin der väterliche Rat besteht … und ob Nick diesen später tatsächlich beherzigt.


«Wenn du meinst, jemanden kritisieren zu müssen», sagte er, «so denk daran, dass nicht alle Menschen auf der Welt dieselben Vorteile hatten wie du.»

Die deutsche Synchronfassung, die sich im Übrigen an Bettina Abarbanells Übersetzung von 2006 orientiert, formuliert hier viel expliziter als die Romanvorlage und rückt damit den inneren Konflikt, wenn nicht gar das Scheitern der Erzählfigur in den Vordergrund: «Versuche stets das Beste in den Menschen zu sehen», zitiert Nick seinen Vater. «Folglich neigte ich dazu, mich mit allem Urteil zurückzuhalten. Doch selbst ich habe meine Grenzen.»

Da Nick Carraway von seinen «jüngeren und empfindsameren Jahren» spricht, dürfen wir davon ausgehen, dass er wie viele autobiografisch anmutende Erzählungen à la David Copperfield oder Der Name der Rose aus zeitlicher Distanz, um Erfahrungen reicher, vielleicht sogar geläutert auf seine Erfahrungen zurückschaut. Der Einstieg hat etwas Bekenntnishaftes und lässt vermuten, dass wir es mit einer morali­schen Geschichte zu tun bekommen.

Erste Sätze – letzte Sätze

Berühmter als der Anfang des Grossen Gatsby ist hingegen der letzte Satz, der wie ein Schlussakkord nachhallt.  Er ziert sogar die Grabplatte auf dem Friedhof von Rockville, Maryland, wo Francis Scott Key Fitzgerald und dessen Frau Zelda Sayre ihre letzte Ruhe gefunden haben. 

The grave of F. Scott Fitzgeraldd and Zelda Fitzgerald, St. Mary’s Catholic Cemetery in Rockville, Maryland. 

Auch Baz Luhrmann weiss die poetische Kraft dieser letzten Worte zu nutzen und blendet die Textzeilen am Schluss im Bild mit dem symboli­schen grünen Licht ein:

Zu den breits vorliegenden deutschen Übersetzungen ist nun mit der Jubiläumsausgabe bei Manesse eine weitere hinzugekommen. Wie Thomas Hermann 2013 in einem früheren NZZ-Artikel über Fitzgerald und Hemingway empfiehlt, lohnt es sich, angesichts der Übersetzungs­vielfalt den letzten Satz in seinen deutschen Varianten zu vergleichen.

In der ZDF-Sendung «Das Literarische Quartett» vom 21.3.2025 betont Eva Menasse, dass Bernhard Robben auch den fast unübersetzbaren letzten Satz elegant übertragen habe. Dem schliesse ich mich gern an, möchte aber wie Thomas Hermann nicht versäumen, Walter Schürenbergs frühen Versuch zu würdigen, Fitzgeralds eingängige Alliteration ins Deutsche zu tragen.

Daniel Ammann, 23.3.2025, aktualisiert 8.4.2025


F. Scott Fitzgerald
Der grosse Gatsby.
Kommentierte Jubiläumsausgabe mit Korrespondenzen, Rezensionen und einer 100-Jahre-Gatsby-Zeittafel.
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Bernhard Robben. Herausgegeben und kommentiert von Horst Lauinger. Mit einem Nachwort von Claudius Seidl.
München: Manesse, 2025. 352 Seiten.

F. Scott Fitzgerald
Der grosse Gatsby.
Aus dem amerikanischen Englisch von Maria Lazar. Bearbeitet und mit Anmerkungen versehen von Heiko Arntz. Mit dem Vorwort des Autors zur Neuausgabe des Romans von 1934 [in der Übersetzung von Hans-Christian Oeser und einem Nachwort von Daniel Kampa. Zürich: Kampa, 2025. 293 Seiten.

  1. F. Scott Fitzgerald hält in einem Brief vom 24. Januar 1925 an seinen Lektor Max Perkins im PS fest:
    «Alles okay, nur sagt mir mein Herz, ich hätte das Buch Trimalchio nennen sollen. Gegen den allgemeinen Rat wäre das allerdings wohl bloss dumm und trotzig von mir gewesen. Trimalchio in West-Egg war nur ein Kompromiss. Gatsby klingt so nach Babbitt, und Der grosse Gatsby ist ein schwacher Titel, weil er die Grösse – oder deren Fehlen – nicht akzentuiert, nicht einmal ironisch. Aber wie auch immer, belassen wir es dabei» (Fitzgerald 2025, 211). ↩︎
  2. Der erste Satz wird unverändert übernommen. ↩︎

Ermutigung zum Schreiben

Ermutigung zum Schreiben

Entlang ihrer persönlichen Schreibbiografie gewährt uns die Autorin Milena Moser Einblick in ihren holprigen Werdegang, lässt uns offen und humorvoll an Alltags- und Schreiberfahrungen teilhaben und bietet in Kombination mit Übungen, Ratschlägen und Überlebenstipps genau das, was der Untertitel verspricht: Eine Ermutigung.

Es gibt nach meiner Beobachtung vor allem zwei Arten von Schreibratgebern. Die einen kommen als Pep-Talk daher, animieren zum Schreiben, liefern Prompts und geben Tipps, wie man anfängt, wie man dranbleibt, wie man das Schreiben in den Alltag integriert. Keine Zeit zum Schreiben? Steh halt früher auf, take a break, geh später schlafen. Es ist wie mit dem Meditieren oder dem Sport: Falls dir wirklich etwas daran liegt, hör auf zu träumen und zu lamentieren. Fang endlich an! Das meint auch der Künstler Mark Staff Brandl unter dem Motto «Shut up and paint!». Sinngemäss sind damit alle Kreaktiven angesprochen, also auch die Schreibwilligen und Möchtegern-Autor:innen. «Einfach anfangen», heisst es deshalb auch bei Milena Moser: «Was im Kopf ist, kommt aufs Papier.» Aber damit ist es nicht getan, denn nach wie vor gilt in allen Disziplinen: Learning by doing. Das erfordert bewusstes Üben und eine gehörige Portion Durchhaltewillen. Denn wie die Expertiseforschung zeigt, sind Erfolg und Meisterschaft nicht bloss eine Frage des Talents oder der Inspiration.

Hier kommt der zweite Typ von Schreibratgeber ins Spiel. Man setzt sich nicht nur mal so hin und bekommt dafür den Nobelpreis – auch wenn dieser Genie-Mythos immer noch unser Denken beseelt und die Plots zahlreicher Biopics dominiert. Prompts, Warmups und Lockerungsübungen helfen dem Schreiben und der Kreativität zwar auf die Sprünge und halten die Textproduktion in Gang. Aber wenn man es ernst meint, braucht es auch handwerkliches Können, also Feedback von aussen und Arbeit am Text.

«Meinst du es ernst?»

Wenn andere die Freude an den entstehenden Texte teilen sollen, wenn man sich Leserinnen und Leser, vielleicht sogar einen professionellen Verlag wünscht, hat man noch ein grosses Stück Arbeit vor sich (die, wohlgemerkt, ebenfalls Spass machen kann). «Fertig bin ich noch lange nicht», sagt Milena Moser. Als Leser:innen sehen wir nur die fertigen Produkte um Buchhandel und in den Bibliotheken. Das mehrmalige Überarbeiten, die verworfenen Versionen und all die gescheiterten Manuskripte bekommen wir in der Regel nicht zu Gesicht. In unzähligen Spielfilmen über reale und fiktive Autor:innen wird dieser Teil gern ausgespart. Nach der Durststrecke der Schreibblockade, nach überstandenen Lebenskrisen werden die Texte im Feuereifer in die Schreibmaschine gehämmert, der Federkiel saust übers Papier, «als hätte eine Stimme aus den Wolken zum Diktat gebeten», wie es Truman Capote einmal beschrieben hat.

Gewiss, viele Tipps und Anregungen in Milena Mosers anregendem Schreibbuch sind nicht neu. Aber es braucht sie – immer wieder – zur Erinnerung und als Ermutigung, wenn der Schaffensprozess ins Stocken gerät. Man kann nicht alles – und nur in den seltensten Fällen auf Anhieb – richtig machen. Die Tipps bewahren einen nicht vor Fehlern und Missgeschicken, aber sie tragen dazu bei, dass man nicht alles falsch macht und sich selber sabotiert – oder sich wenigstens mit offenen Augen ins ungewisse Abenteuer stürzt. Andere Schreibende haben Ähnliches durchgemacht und trotz persönlichen Krisen und beruflichen Rückschlägen weitergemacht. Daran erinnern auch Doris Dörries Leben, schreiben, atmen: Eine Einladung zum Schreiben (Diogenes 2019) oder Die Geschichten in uns: Vom Schreiben und vom Leben von Benedict Wells (Diogenes 2024). Viele spätere Erfolgsautor:innen berichten von beschwerlichen Anfängen und wiederholtem Scheitern. F. Scott Fitzgerald blickt 1920 in einem autobiografischen Essay auf die vergangenen Jahre zurück, als er Kurzgeschichte um Kurzgeschichte schrieb, aber niemand sie kaufen wollte: «Ich hatte einhundertzweiundzwanzig Absagen als Fries an meine Zimmerwände geheftet.»

Schreibratgeber bieten kein Rezept für garantierten Erfolg. Vielmehr zeigen sie auf, was es bedeutet, sich leidenschaftlich dem literarischen Schreiben zu verschreiben, weil darin ein besonderes Glück liegt. «Berühmt zu werden, war nie ein Thema», hält Milena Moser fest, und Bekanntheit «schützt vor gar nichts».

 Daniel Ammann, 2.3.2025


Milena Moser
Schreiben: Eine Ermutigung.
Zürich: Kein & Aber, 2025. 462 Seiten.

Der Mann, der Weihnachten erfand

Der Mann, der Weihnachten erfand

The Man Who Invented Christmas lautet der Titel eines vergnüglich-skurrilen Biopics über Charles Dickens und die Entstehung seiner weihnächtlichen Gespenster­geschichte «A Christmas Carol» (1843) – auf Deutsch unter anderem bekannt als «Eine Weihnachts­geschichte», «Ein Weih­nachts­lied in Prosa», «Der Weih­nachts­abend» oder «Ein Weih­­nachts­märchen». 

What’s in a name?

Auch wenn Anfänge wichtig sind und so manche Erzählung ihre Existenz einem genialen ersten Satz verdankt – Bharat Nalluris Spielfilm aus dem Jahr 2017 erzählt eine andere Geschichte. Nach mehreren Fehlschlägen und finanziell in Bedrängnis braucht der unnachahmliche Charles Dickens (Dan Stevens) unbedingt einen literarischen Erfolg. Den schreibt er tatsächlich, aber richtig loslegen kann er erst, wenn die Protagonisten auf den Plan treten. Zunächst hat er nur einen Titel und eine vage Vorstellung. Damit die Geschichte in seiner Imagination aber Gestalt annimmt, braucht er lebendige Gestalten. «You get the name right and then – if you’re lucky – the character will appear.» Dickens probiert verschiedene Varianten aus. Scratch? Scrounger? … Screwpull … Scrabbly … scr—rrrr—aahhh— chh … aahhh. Mr …. Scrimple! – Als er schliesslich «Scrooge!» ausruft, fährt ein Windstoss durch den Raum und Ebenezer Scrooge (Christopher Plummer) betritt leibhaftig die Bühne.

Der Mann, der Weihnachten erfand

Mit einem Knalleffekt beginnt auch Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte: «Marley was dead: to begin with.» Ein Hammerschlag, der leicht nachfedert. An Kürze und Eindringlichkeit kaum zu überbieten. Zwei Mal drei Wörter. Das klingt wie eine Beschwörungsformel. Noch wissen wir nicht, was uns hier erwartet. Eine Weihnachts­geschichte, die nicht mit einer Geburt, sondern mit einer Leiche beginnt, weckt unsere Aufmerksamkeit. Ist das eine kriminalistische Moritat? Oder eine unheilige Geistergeschichte, wie Dickens im Untertitel warnt? A Christmas Carol in Prose: Being A Ghost-Story of Christmas.

Marley war tot – so what?

Ein Blick auf die überaus zahlreichen Übertragungen macht deutlich, dass einfache Sätze nicht einfacher zu übersetzen sind. Ein gutes Dutzend Versionen habe ich zum Vergleich zusammengetragen. Der erste Teil scheint den Übersetzer:innen kaum Probleme zu bereiten: «Marley war tot.» Darin sind sich die meisten einig. Die Varianten beschränken sich vornehmlich darauf, ob danach ein Punkt, ein Doppelpunkt oder ein Strichpunkt folgt.

Marley war tot, so viel muss ich vorausschicken. (Julius Seybt, 1877)
Marley war tot, damit wollen wir anfangen. (Richard Zoozmann, 1909)
Marley war tot, das gleich zu Anfang. (Margit Meyer 1979)
Marley war tot: Das muss ich vorausschicken. (Sybil Gräfin Schönfeldt, 1993)
Marley war tot. So geht’s schon mal los. (Volker Kriegel, 1994)
Marley war tot, so viel vorab. (Melanie Walz, 2011)
Marley war tot; dies gleich zu Anfang. (Britta Mümmler, 2011)
Marley war tot; dies zu Beginn. (Eike Schönfeld, 2014)
Marley war tot, so viel vorweg. (Gundula Müller-Wallraf, 2017)
Marley war tot, dies gleich vorneweg. (Hans-Christian Oeser, 2022)

Zwei Beispiele scheren hingegen aus und verpassen dem ersten Satz einen syntaktischen Dreh, indem sie leise beginnen und dann mit gewaltiger Wucht den Nagel einschlagen.

Zunächst einmal: Marley war tot. (Trude Fein, 1978)

Um es gleich vorauszuschicken: Marley war tot. (Isabelle Fuchs, 2007)

 Der alte Marley war so tot wie ein Türnagel, heisst es weiter, und der Erzähler hält kurz inne, um darüber zu räsonieren, was an einem Türnagel so ausserordentlich tot sein soll und ob in diesem Fall ein Sargnagel nicht die bessere Wahl wäre.

Bei Dickens und den Übersetzungen, die seinem Beispiel folgen, steckt der übersetzerische Stachel im zweiten Satzteil. Einige Übersetzer:innen lassen den Hammerschlag langsam ausklingen, um dann neu anzusetzen: «Das muss ich vorausschicken» oder «So geht’s schon mal los». Andere versuchen es dem grossen Meister gleichzutun und entscheiden sich ebenfalls für drei kurze Wörter wie «dies zu Beginn», «so viel vorab» oder «dies gleich vorneweg». Ich möchte mich gern hier einreihen und schlage drei Wörter und vier Silben vor: Marley war tot – damit fängt’s an.

Wie würden Sie beginnen?

Daniel Ammann, 12.2.2025


Siehe auch:

Wackelkontakt und Metalepse

Wackelkontakt und Metalepse

Der erste Satz, so wird gelegentlich behauptet – und manchmal trifft es wohl zu –, trägt bereits die ganze Geschichte, zumindest ihre DNA, in sich. Gleich einem Samenkorn, aus dem ein ganzer Baum wächst, den man vielleicht zu Papier verarbeitet, um das Buch herzustellen, das im ersten Satz wieder das Samenkorn enthält.

So viel darf man in Wackelkontakt dem ersten Satz zugestehen: Ein paar wichtige Dinge kommen schon vor, auch wenn man dies selbstredend erst erkennt, wenn man das Übrige gelesen hat. Das gilt in diesem Fall auch für die raffinierte Metalepse1.

Der erste Satz nimmt, wie so oft, vieles vorweg und verrät doch nichts. Das macht seinen Reiz aus und lässt mich so gern dahin zurückkehren, wo alles, wenigstens in einem Buch, beginnt. Hier haben wir: (1) Franz Escher, mit seinem allusiven Namen, (2) das Warten, das man mit einem Buch oder eben mit einem (3) Puzzle zubringen kann – bis einem das Schicksal ereilt oder in der Erwartung, dass sich irgendwann etwas (4) Erwartetes oder Unerwartetes ereignet. Die zusammengesetzten Puzzleteile greifen ineinander, vervollständigen ein Bild, das aber weiterhin aus einzelnen Stücken besteht und dessen Rahmen darüber hinwegtäuscht, dass es nur einen Ausschnitt zeigt. Als würden wir durch ein Fenster blicken.

Er verstand nicht, was hier abging. Was lief hier eigentlich? Das Bild setzte sich nicht zusammen. Er hatte einen Mangel an Infor­ma­tionen. Er hatte ein Zuviel an Infor­ma­tionen. Eine unend­liche Leere öffnete sich unter seinen Füssen.

Machen wir es doch wie die Puzzlespieler und beginnen oben links mit dem Rahmen, dem ersten Satz.

Daniel Ammann 24.1.2025

  1. Auch bei der Metalepse handelt es sich um eine Art Wackelkontakt, einen narrativen Kurzschluss, bei dem unvermittelt die Ebene gewechselt wird. Wenn die einzelnen Erzählstränge ineinander greifen, sich Binnen- und Rahmenerzählung wider alle Logik gegenseitig enthalten und uns durch den Blick ins Bodenlose in einen Taumel stürzen, haben wir es mit einem Spezialfall der Metalepse zu tun, der sogenannten mise en abyme. ↩︎

Zum Thema «narrative Metalepse» siehe auch:

Der Weg zum Erfolg

Der Weg zum Erfolg

Wenn wir uns auf einen Operationstisch legen oder in ein Flugzeug steigen, vertrauen wir uns lieber einer Chirurgin oder einem Piloten mit viel Erfahrung an. Übung macht schliesslich den Meister und die Meisterin. Darauf verlassen wir uns.  Wie die Expertiseforschung allerdings zeigt, lässt sich Meisterschaft nicht einfach in Übungsstunden und Berufsjahren messen. Und auch das Talent wird überbewertet.

Die Zeit im Rückwärtsflug – Mister Write goes to …

TheDigitalArtist / Pixabay

Fiktion kann mit der Zeit umspringen, wie sie will. Zeitverläufe werden beim Erzählen nicht nur gedehnt und gerafft oder durch Rückblenden und Vorgriffe unterbrochen. In F. Scott Fitzgeralds Novelle Der seltsame Fall des Benjamin Button (dt. v. Christa Schuenke; Orig. The Curious Case of Benjamin Button) kommt ein Kind in Gestalt eines siebzigjährigen Greises zur Welt und entwickelt sich über die Jahre körperlich und geistig zurück bis zum Baby.

«Eingewickelt in eine bauschige weisse Decke und halbwegs hineingestopft in eines der Bettchen, hockte dort ein alter Mann von augenscheinlich etwa siebzig Jahren. Er hatte schütteres, nahezu weisses Haar, und von seinem Kinn hing ein langer, rauchgrauer Bart, der in dem durchs Fenster hereinkommenden Luftzug irrwitzig hin und her wehte. Mit einem ratlosen, fragenden Blick in den trüben, verwaschenen Augen schaute er hinauf zu Mr. Button.»

Während sich die Zeit kontinuierlich vorwärts bewegt, läuft sie für Benjamin Button rückwärts. Bis er sich schliesslich  an nichts mehr erinnern kann.

«Dann gab es nur noch Dunkelheit, und sein weisses Bettchen, die verschwommenen Gesichter, die sich über ihn beugten, der warme, süsse Duft von Milch – all das verblasste und schwand endlich ganz und gar aus seiner Erinnerung.»

Einen erzähltechnischen und perspektivischen Schritt weiter geht Martin Amis in seinem Roman Pfeil der Zeit (dt. v. Alfons Winkelmann; Orig. Time’s Arrow). Hier läuft die Zeit mit der Geschichte rückwärts.

«Todd Friendly liegt in einem amerikanischen Krankenhaus im Sterben, doch mit dem Tod beginnt sein Leben rückwärts zu laufen, bis er schließlich in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wieder im Mutterleib verschwindet. Stationen sind eine erfolgreiche Tätigkeit als Mediziner in Amerika, die Flucht nach dem Zweiten Weltkrieg aus Europa sowie – Schlüssel zu seinem Leben – die Zeit als Arzt in einem KZ.»

Für seine erzählerische Kühnheit und die virtuose Gestaltung der Zeitumkehrung gebührt Martin Amis der vierte «HC Award for Special Achievement in Literary Fiction» (benannt nach dem schweizerisch-kanadischen Literaturwissenschaftler Herman Couzens). Auf eindrückliche Weise und mit narrativer Konsequenz erzählt Amis im Time’s Arrow «das Leben eines Nazikriegsverbrechers vom Augenblick seines Todes rückwärts bis zu seiner Geburt […], mit anfangs komisch-grotesker Wirkung und dann zunehmend beunruhigt und beunruhigend, als die Geschichte sich den Schrecken des Holocausts nähert» (wie David Lodge in seiner Kunst des Erzählens festhält; übers. v. Daniel Ammann).

Magoria by Daniel Ammann